Schauen sie sich mal diese Sauerei an
fort. »Phobie, ich habe eine Brennnesselphobie, nicht Allergie!«, entgegnete der junge Mann schüchtern. »Angeboren oder erworben?«, fragte Hein trocken. »Als Kind hab ich Flügelhorn im Musikverein gespielt, ich war erst 13 Jahre alt und in meiner Altersgruppe der Jüngste und Kleinste. Es war beim Zeltlager unter der Dusche. Mit gespreizten Beinen und Seife in den Augen stand ich da. Von hinten haben sich drei ältere Mädchen angeschlichen und mir lange Brennnesseln zwischen die Beine gepeitscht. Aus Reflex habe ich die Beine zusammengeschlagen. Dann haben diese Weiber die Stängel nach hinten gerissen, sodass die ganzen Blätter zwischen meinem Hodensack und meinen Beinen hingen«, schilderte unser Freund der schönen Künste sein jugendliches Martyrium. Aufgrund der erschütternden Schilderung entwickelte sich nun eine gewisse Solidarisierung mit dem geschundenen Künstler. Hein meinte sinngemäß, er könne jetzt in Anbetracht der Zusammenhänge eine gewisse Zurückhaltung in der Gesamtsituation nachvollziehen. Wortreich ergänzte ich aus meinen Erfahrungen mit drei älteren Schwestern: »... pubertierende Mädchen können grausam sein, eine vorgezogene Rache für die unterdrückte Rolle der Frau in unserer technisierten Gesellschaft«, schloss ich unter zustimmendem Nicken der männlichen Anwesenden. Unsere Patientin zeigte weniger Anteilnahme: »Was soll der Schmusekurs mit dem Scheißkerl, ich denke über eine Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung nach, und die Herren Sanitäter machen hier einen auf Kumpel. Ich glaub, ich bin im falschen Film!«, ereiferte sie sich, während sie an unangenehm juckenden Quaddeln kratzte. »Beruhigen Sie sich! Unruhe tut Ihnen im Augenblick gar nicht gut«, erklärte Hein. »Wahrscheinlich haben Sie außer dem gebrochenen Bein auch eine schwere Gehirnerschütterung. Da treten gerne Erinnerungslücken auf - vielleicht hat der junge Mann sogar versucht, Ihnen zu helfen, und Sie können sich nur nicht mehr daran erinnern. Wir fahren Sie jetzt erst einmal ins Krankenhaus!« Hein schob die Trage in den Rettungswagen und schloss die Türen, ohne eine weitere Antwort abzuwarten. Unvermittelt ertönte die Titelmelodie der Benny Hill Show als Klingelton. Peinlich berührt griff Hein in seine Hosentasche. Als er die Nummer auf dem Display seines Mobiltelefons sah, lächelte er. »Carmen!«, sagte er mit vielsagendem Blick und trat einen Meter zur Seite. Es hätten auch zehn Meter sein können, man hätte trotzdem genug verstanden, um der Syntax des Gesprächs zu folgen: »Was glaubst du, wer du bist ... du glaubst wohl, die Sonne scheint aus deinem Arsch. Kein Respekt ... Unverschämtheit ... noch nie versetzt worden ... arrogantes Sanitätergesocks ...« Hein ließ den Arm sinken, das lärmende Telefon noch in der Hand, erschien sein Blick traurig, ja fast aussichtslos verloren. »Buddhistin?«, fragte ich zweifelnd. Hein nickte. »Die sind doch sonst eher friedliebend, verständnisvoll und zur Vergebung bereit?«, vergewisserte ich mich. Hein stellte resigniert fest: »Da gibt es wohl verschiedene Schulen!« »Bierchen heute Abend?« »Ja, auch zwei oder drei!«, stimmte Hein lächelnd zu. »Ähh, kann ich, ähh, darf ich auch mitkommen?«, formulierte unser Kunststudent unsicher. »Ja sicher. Warum nicht, du bist schließlich die Quelle allen Übels, Ursache und Wirkung, Anfang und Ende, Alpha und Omega. Alles ist für irgendwas gut...! - So ne gequirlte Scheiße, geh mir bloß aus den Augen, sonst schieb ich dir deine Staffelei in den Arsch.« Wissend, dass Hein keine Witze machte, ergriff unser abstrakter Freund mit Leinwand und Pinsel unterm Arm die Flucht. »Dann sind wir uns ja einig, Männer«, sagte Hein resigniert, »vor dem Bierchen gibt es aber noch Arbeit. Die Muse muss ins Krankenhaus!«
16. Rettungsdienst in einem Käfig voller Narren
Bilder im Kopf
Mit dem Geist ist es wie mit dem Magen: Man kann ihm nur Dinge zumuten, die er verdauen kann. Winston Churchill
I m Gespräch mit Freunden und Bekannten versuche ich grundsätzlich, den Rettungsdienst möglichst realistisch darzustellen. Das ist nicht immer einfach, man kämpft manchmal erbittert gegen falsche Vorstellungen. Sie werden es nicht glauben, aber ich rette nicht jeden verdammten Tag irgendein Menschenleben, nein, ich schwebe auch nicht jeden Tag in Lebensgefahr, und ich muss auch nicht ständig irgendwelche Unfallopfer von der Straße kratzen. Natürlich sind diese Dinge Bestandteil meines Berufes,
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