Schauen sie sich mal diese Sauerei an
raufgeklettert?« Seine Frage war berechtigt, weder trug der Baum Früchte, noch hatte man eine nennenswerte Aussicht von dort oben. »Ich hab meine Muse gemalt und dann verloren!«, sprach eine Stimme zu uns, die wir nicht direkt zuordnen konnten. Kennen Sie das? Menschen, die quasi neben Ihnen stehen, die Sie aber erst wahrnehmen, wenn diese sich aktiv bemerkbar machen. Langsam begann es zu dämmern, und aus der heraufziehenden Dunkelheit trat ein schmächtiger junger Mann auf uns zu. »Sie haben was?« »Ich habe für meine Semesterarbeit einen Akt in der Natur geschaffen«, erläuterte der kunstbegeisterte Student und hielt uns eine halbfertige Proportionsstudie unter die Nase. Ich fragte ungläubig: »Sie haben also eine junge Dame gemalt, und die ist dann vom Ast gefallen?« »Eine nackte junge Dame!«, präzisierte er. »Und warum stehen Sie dann neben uns, statt Ihrer Muse zu helfen?« »Da sind Brennnesseln«, murmelte unser Künstler beinahe unverständlich. Hein und ich marschierten los, um uns ein genaueres Bild von der Situation zu machen. An unseren Möchtegern-Picasso gewandt rief Hein: »Sie bleiben schön, wo Sie sind, wir brauchen Sie vielleicht noch!« Nach wenigen Metern war das ganze Ausmaß des Dramas erkennbar. In einem Bett aus geplätteten Pflanzen wand sich unter Schmerzen eine nackte junge Rubensdame. Eine bequeme Lage war für die Ärmste wahrlich nicht zu finden. Nach ihrer Huldigung der Schwerkraft war unsere Patientin in ein etwa zehn Quadratmeter großes Feld beachtlich hoher Brennnesseln gefallen. Sich selbst zu helfen, war ihr fast unmöglich. Schon aus der Ferne betrachtet, wies das linke Bein eine eindeutige Fehlstellung am Unterschenkel auf. Wahrscheinlich Schienbein-Wadenbein-Bruch, selbstständiges Aufstehen - undenkbar. Eine Schneise in den Brennnesseln verriet, dass unser gefallenes Mädchen zunächst versucht hatte, sich aus der misslichen Lage herauszurobben. Dabei hatte sie ihren nackten Körper aber nur noch mehr den geißelnden Pflanzen dargeboten. Hein fackelte nicht lange, er nutzte ein Bein quasi als Sense und schlug so einen Weg zu unserer Patientin. Er schaute in dankbare Augen, als er das Aktmodell erreichte. Sekundenbruchteile später verwandelte sich das Gesicht jedoch in eine wütende Visage: »Wo ist das Schwein? Mich erst auf den Baum hetzen und dann in der Brennnesselscheiße liegen lassen. Ich schneid dem Arschloch ein Ohr ab! Dann kann der Versager ja einen auf van Gogh machen!« Aus gebührender Entfernung erklang der zaghafte Versuch einer Verteidigung: »Ich kann doch nix dafür, wenn du da oben einschläfst. Außerdem hab ich ne Brennnesselphobie ...« »Wie dem auch sei. Sie bleiben bitte noch einen Augenblick hier liegen. Ihr Bein ist vermutlich gebrochen, wir holen Material, um Sie schonend aus Ihrer Lage zu befreien«, bestimmte Hein. Am Rettungswagen angekommen, sprach uns der Pinselschwinger zaghaft an: »Mich brauchen Sie hier doch nicht mehr, oder?« »Und ob, Freundchen, hier gibt es noch ein wenig Suppe auszulöffeln!«, negierte Hein den offensichtlichen Fluchtversuch. Meinen schelmischen Blick kommentierte er anschließend nur achselzuckend: »Was guckst du so? Die Kunst lebt doch erst durch Konflikte.« Sprach es, griff die Schaufeltrage und marschierte wieder Richtung Rubensdame. Unsere Patientin wurde sach- und fachgerecht auf die Trage gelagert, mit einer Decke vor neugierigen Blicken geschützt und anschließend von Hein und mir Richtung Rettungswagen getragen. »Können Sie so bitte zwei bis drei Minuten stehen bleiben? Die Szene ist gerade sehr ausdrucksstark«, tönte die Stimme des Kunststudenten, als wir die Hecke fast erreicht hatten. Der Kerl hatte tatsächlich seine Staffelei hinter unserem RTW aufgebaut und schwang wild mehrere Pinsel gleichzeitig. »Ich kann mit dir mal zwei bis drei Minuten zu den Brennnesseln gehen!«, erwiderte ich ungehalten. »Genau, schnappen Sie sich diesen farbharmonischen Vollidioten und prügeln Sie ihm sein eingebildetes Kunstverständnis aus dem Arsch. Ich würde es ja gern selbst machen, aber Sie sehen ja ...!«, hetzte unsere Patientin. »Seit zwei Jahren verschwende ich mich jetzt an diesen debilen Versager, der Typ malt mich in jeder Lebenslage. Und heute kommt der mir wieder mit so einer bescheuerten Idee, irgendwas mit Kunst an ungewöhnlichen Orten. Ich mach den Schwachsinn auch noch mit, und dann lässt der Kerl mich wegen seiner Brennnesselallergie im Stich«, setzte sich das Gezeter weiter
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