Schaut nicht weg
noch Distanz zulassen können. Sie sind extrem fordernd und zurückweisend zugleich. Denn Borderline-Persönlichkeiten können kaum differenziert empfinden: Für sie ist ein Mensch häufig entweder »nur gut« (wenn er das tut, was sie verlangen) oder »nur böse« (wenn er sich ihren Erwartungen oder Ansprüchen widersetzt). Man sagt auch: Sie denken schwarzweiß. Depressionen, selbstschädigendes Verhalten, Rituale und Zwänge gehen oft mit dieser Störung einher. Rohde-Dachser erklärt die Entstehung der Borderline-Persönlichkeitsstruktur mit dem wiederholten Erleben von Beziehungserfahrungen, die das Kind nicht bewältigen kann und vor dem das Kind nicht geschützt wird. Mit der Folge, dass das Kind nicht einordnen kann, was ihm passiert, und nicht lernt, der Wahrnehmung der eigenen Gefühle zu trauen. Beispiel: Das Kind/Stiefkind hat in einer (sexuellen) Gewaltsituation wiederholt starke Angst, doch der Täter/Stiefvater vermittelt ihm immer wieder, dass es gar nicht Angst haben könne, weil ja alles so schön sei. Das Kind entwickelt also kein Vertrauen in die Authentizität der eigenen Gefühle und dies wiederum führt unter Umständen später zur Entstehung einer »emotional instabilen Persönlichkeit«.
Auch zwischen Essstörungen und sexuellem Missbrauch besteht mitunter ein Zusammenhang. In einer groß angelegtenStudie unter 10
000 Frauen im Jahr 2005 konnten britische Wissenschaftler der University of Bristol feststellen, dass Essstörungen bei Frauen, die sexuell missbraucht wurden, doppelt so häufig auftreten wie bei nicht betroffenen Frauen. Gefühle der Scham, Schuld und ein Strafbedürfnis gegenüber dem eigenen Selbst manifestieren sich mitunter in der Anorexie und vor allem der Bulimie. »Sexueller Missbrauch und Essstörungen können sehr wohl zusammenhängen«, kommentiert auch die österreichische Psychotherapeutin Barbara Reiterer. »Durch den Missbrauch entsteht eine Feindlichkeit gegen den eigenen Körper und die Essstörung kann als verzweifelter Versuch gewertet werden, eine Zufriedenheit herzustellen und das seelische Unbehagen wegzuwischen.« Der innere Zwang zum Erbrechen dient häufig dazu, unaushaltbare seelische Spannungszustände abzuwenden. »Am schlimmsten ist es in der Zeit zwischen 17 Uhr und 20 Uhr«, schreibt eine Betroffene, die als kleines Kind über Jahre hinweg von ihrem Nachbarn sexuell missbraucht wurde. »Dann hilft nur noch Kotzen.« Auch andere Arten selbstverletzenden Verhaltens wie Kratzen, Ritzen, Schneiden oder Verbrennen der Haut können als Ventil für unaushaltbare Gefühlszustände dienen, die ihre Wurzel in sexuellen Missbrauchserlebnissen haben: Durch das Zufügen von Schmerzen lenken sich Betroffene von dem inneren Angstdruck ab beziehungsweise erhöhen den Schmerz so weit, bis der innere Druck nicht mehr »spürbar« ist. Danach entsteht kurzfristig ein Gefühl der Erleichterung und die Betroffenen fühlen sich besser. »Ich kratze mir die Arme auf, den Rücken, die Beine, alles was ich erreichen kann. Ich unternehme nichts, es hilft mir, mich zu spüren«, schreibt ein junger Mann, der als Kind von einem Onkel missbraucht wurde. Aber: Natürlich haben nicht alle Menschen, die an Essstörungen oder selbstverletzendemVerhalten leiden, zwangsweise sexuelle Gewalt erlebt – auch andere Arten schwieriger kindlicher Beziehungserfahrungen können dahinterstecken.
Eine weitere häufige Folge wiederholter sexueller Gewalt in der Kindheit ist die Dissoziative Identitätsstörung. Häufig »träumen« sich Kinder während sexueller Gewalthandlungen weg oder fantasieren, dass die Taten nicht ihnen geschähen, sondern jemand anderem – eine Art Schutzmechanismus gegen die alptraumhafte Realität. Bei wiederholten Traumata gerät das Kind unter Umständen wieder und wieder in diese »dissoziativen Zustände«, die sich dann irgendwann zu dissoziativen Fragmenten (also Persönlichkeitssplittern, die einzelne Fähigkeiten oder Erinnerungen umfassen) und schließlich zu voll ausdifferenzierten dissoziierten Persönlichkeitsanteilen entwickeln können. Das Kind verfügt dann also sowohl über einen Teil der Persönlichkeit, der die Erinnerung an das Trauma in sich trägt, als auch über einen Teil, der sich daran nicht erinnern kann. Dadurch ist das Kind im Alltag in der Lage, sein Leben scheinbar so weiterzuführen, als sei nichts passiert. Doch bei erneuter Traumatisierung – oder wenn das Kind durch irgendetwas an das Trauma erinnert wird – kommt es mit
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