Schaut nicht weg
die Jahre verschiedenste Untersuchungen gezeigt haben, dass missbrauchte Kinder oder Jugendliche mitunter lebenslang an den Folgen ihrer belastenden Kindheitserfahrungen leiden. Eine amerikanische Studie an 1700 erwachsenen US-Amerikanern, die als Kinder wiederholt körperlichen, emotionalen und/oder sexuellen Missbrauch erlitten, fand etwa heraus, dass auch 50 Jahre später die belastenden Kindheitserfahrungen noch tiefgreifende Folgen haben. Die Betroffenen besaßen ein bis zu 460 Prozent höheres Depressionsrisiko und eine um 1220 Prozent erhöhte Wahrscheinlichkeit eines Suizidversuchs. Eine weitere Studie des US-amerikanischen National Institute on Drug Abuse kam zum Ergebnis, dass sexuell missbrauchte Frauen ein doppelt so hohes Risiko haben, an Depressionen oder einer generalisierten Angststörung zu erkranken wie nicht betroffene Frauen. Auch Alkohol- oder Drogensucht lagen im Vergleich zur Normalbevölkerung etwa dreimal so häufig vor. Es ist also wichtig, betroffenen Kindern traumafokussierte Psychotherapien anzubieten, um einer Chronifizierung entgegenwirken zu können – und um außerdem zu verhindern, dass diese Kinder später als Erwachsene ihre Erfahrungen wieder und wieder mit Kindern reinszenieren. Denn Opfer, die ihre Erfahrung nicht verarbeitet haben, können ihrerseits zu Tätern werden. Aus der Therapie sind solche Täter-Opfer-Täter-Kreisläufe über mehrere Generationen bekannt. Insofern ist Opferschutz also auch Täterprävention.
»Das Trauma bearbeiten«: Was traumatisierten Kindern hilft und welche Möglichkeiten Psychotherapie bietet
Nicht alle Kinder, die sexuelle Gewalt erleben, leiden später jedoch unter seelischen Langzeitfolgen. Die Art und Weise, wie ein Opfer mit diesen Erfahrungen umgeht, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab: dem Schweregrad der Gewalterlebnisse, der psychischen Konstitution des Kindes, den familiären Umständen nach der Tat. Vielen Kindern gelingt es tatsächlich, traumatische Erfahrungen bereits im Verlauf weniger Monate ohne bleibende Schäden für ihre Entwicklung zu verarbeiten. Andere wiederum kommen über einen relativ langen Zeitraum gut damit zurecht, ihre Erlebnisse zu verdrängen, und verspüren dann erst als Erwachsene die Notwendigkeit, sich mit dem Geschehenen zu befassen. Es ist also nicht per se bedenklich, wenn Kinder oder Jugendliche über das als traumatisch Erlebte nicht sprechen möchten. »Darüber reden« hilft auch gar nicht immer: Forschungen haben gezeigt, dass für einen erfolgreichen Heilungsprozess lediglich 20 Prozent der Gewalterfahrungen vom Opfer durchgearbeitet werden müssen, gar nicht mal unbedingt durchs »Sprechen«, sondern ebenso durchs therapeutische Spiel. Dennoch bemühen sich Eltern häufig, mit ihren Kindern über das Erlebte zu reden – aus Angst, dass diese ihre Erfahrungen sonst nicht »verarbeiten« könnten. Doch durch massives oder wiederholtes Nachfragen werden die jungen Opfer oft zusätzlich geschädigt: Die unbedachte Fragerei kann »Erinnerungsfilme« (»Flashbacks«) auslösen, mit dem Ergebnis, dass die Opfer die Gefühle, die sie in der Missbrauchssituation hatten, erneut durchleben müssen – mitunter in einer solchen Intensität, als ob die Gewalthandlungen im Hier und Jetzt stattfinden. Derartige Erinnerungsfilme können Kinder erneuttraumatisieren und haben außerdem manchmal zur Folge, dass die Opfer jedes Mal, wenn sie die »fragende Person« sehen, wieder an den Missbrauch erinnert werden. Die Begegnung mit ihnen wird somit zum weiteren Auslöser für Erinnerungsfilme und deshalb meiden viele Kinder im Sinne einer gesunden Überlebensstrategie den Kontakt zu den »Fragern«.
Doch welche Kinder brauchen Psychotherapie nach sexuellen Gewalterfahrungen? Therapie benötigen diejenigen Kinder, denen die Bewältigung und Verarbeitung nicht gelingt – die etwa starke Ängste, hartnäckiges Vermeidungsverhalten, soziale Auffälligkeiten oder Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeigen. Psychotherapeuten für Kinder und Jugendliche, die auf Traumata spezialisiert sind, können die Symptome einordnen und eine entsprechende Diagnose stellen. Je nach Symptomen und Schweregrad der Beeinträchtigung können die Fachleute dann verschiedene Therapieverfahren empfehlen. Gute Wirksamkeitsnachweise hinsichtlich der Reduzierung posttraumatischer Belastungssymptome nach sexueller Gewalt zeigt etwa die Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie, eine US-amerikanische Methode, bei der
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