Schaut nicht weg
Eltern ihrer Opfer einen guten Eindruck zu hinterlassen, zum Beispiel, indem sie sich als große Kinderfreunde oder Verfechter von Moral und Anstand präsentieren. Sie sind die hilfsbereiten und kinderlieben Nachbarn von nebenan, die netten Handballtrainer oder eben die aufrechtenkatholischen Jugendarbeiter. Manchmal auch präsentieren sich die Täter selbst als Opfer-Typen, die vom Leben stark gebeutelt sind und den Zuspruch der Eltern verlangen. Es besteht seitens der Eltern also oft bereits ein Schuldgefühl gegenüber den Tätern, die ja so hilfreich oder so arm dran sind – und dieses Schuldgefühl verstellt dann den Blick auf die Handlungen der Täter. Und selbst Täter, die aus der Familie kommen, sind für die Eltern mitunter schwer zu identifizieren. Insbesondere Frauen, deren Lebenspartner ihr Kind sexuell missbraucht, fällt es manchmal schwer, einen Verdacht gegen ihn zuzulassen. Denn die Anerkennung der Taten und das Schützen des Kindes bedeuten oft das Zusammenbrechen ihres gesamten Lebensplanes. Aus Angst davor und weil viele Frauen sich in finanzieller, materieller und emotionaler Abhängigkeit vom Täter befinden, gelingt es manchen Müttern nicht, sich gegen ihn auszusprechen.
Viele Eltern können nach der Aufdeckung eines sexuellen Missbrauchs nicht begreifen, warum ihr Kind sich ihnen nicht anvertrauen konnte. Sie sind erschüttert, dass das als tief empfundene Vertrauen zwischen dem Kind und ihnen offensichtlich nicht tragfähig genug war – und fragen sich, ob sie etwas falsch gemacht haben. Und doch ist das Schweigen der Opfer gegenüber den Eltern in der Regel kein Hinweis auf eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung. Oft schweigen missbrauchte Kinder sogar aus Liebe zu ihren Eltern: Weil die Täter der Familie des Kindes schlimme Folgen angedroht haben, sollte der Missbrauch ans Licht kommen – oder weil die Kinder selbst aus Scham und Angst, den Eltern Leid zuzufügen, nichts erzählen mögen. Kommt der Missbrauch dann doch ans Licht, geraten viele Eltern in eine schwere seelische Krise. Viele Mütter und Väter können nicht mehr entspannen, entwickeln Ängste, Schlafstörungenund andere psychosomatische Beschwerden. Manche erleben die Aussagen ihre Söhne und Töchter sogar mit einer ähnlichen Intensität wie ihr Kind – als ob auch ihnen selbst Gewalt angetan wurde. Andere wiederum zweifeln das Geschehene wieder und wieder an oder stellen dem Kind pausenlos dieselben Fragen. Die Konfrontation mit dem Leid ihrer Töchter und Söhne erschüttert das Grundvertrauen vieler Eltern. Es ist für sie unfassbar, dass ein Mensch, den sie womöglich sympathisch fanden und in dessen Obhut sie ihr Kind gaben, in der Lage war, ihre Tochter oder ihren Sohn so tief zu verletzen. Der Täter oder die Täterin hat häufig also nicht nur dem Kind Schaden zugefügt, sondern auch die Hoffnung der Eltern zerstört, ihrem Kind eine rundum glückliche Kindheit zu ermöglichen. Es ist oft ein langer Weg, bis betroffene Mütter und Väter sich selbst verzeihen können.
»Ich kann das nicht alleine«: Warum auch Eltern Hilfe brauchen, wenn ihr Kind sexuell missbraucht wurde
Eltern, die erfahren, dass ihr Kind sexuell missbraucht wurde, brauchen Verständnis und Unterstützung, um diesen Schock zu überwinden und ihrem Kind helfen zu können. In dieser Krisensituation jedoch werden häufig Konflikte in der Paarbeziehung oder im Verwandten- und Freundeskreis der Eltern deutlich. Kommt der Täter zum Beispiel aus dem sozialen Umfeld, so zeichnen sich oft Spaltungstendenzen ab zwischen denen, die dem Opfer glauben, und denjenigen, die dem Täter Glauben schenken. Nicht selten geraten Mütter und Väter dann in einen Zustand der Handlungsunfähigkeit und Depression. Auch werden vielfach eigene Gewalterfahrungen der Eltern wieder lebendig. Denn gar nichtselten stellt sich heraus, dass auch Mutter oder Vater als Kind Opfer sexueller Gewalt waren und nun mit Erinnerungen konfrontiert werden, die sie lange verdrängen mussten, um zu funktionieren. Gleichzeitig verlangt die Umwelt von ihnen aber trotz der extremen Belastungssituation weitreichende Entscheidungen: Sie sollen das Kind vor dem Täter schützen, die Familie erhalten und dem Opfer bei der Aufarbeitung helfen. Viele Eltern überfordert das. Denn eigentlich bräuchten auch sie nun Unterstützung, um ihre Gefühle und Erinnerungen verarbeiten und den Blick auf den Schutz ihrer Kinder richten zu können. Manchmal reagieren Eltern – oft die Väter – in ihrer
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