Schaut nicht weg
Missbrauch aufgedeckt, gilt es also zunächst, das Kind zu stabilisieren. Sicherheit, Schutz und Vertrauen müssen erst mal wieder hergestellt werden – entweder, indem sich die Familie mit dem Geschehenen auseinandersetzt, sich unmittelbar hinter das Kind stellt und den Kontakt zum Täter abbricht, oder, indem das Kind zunächstaus der Familie herausgenommen wird. Denn nun gilt es vor allem, das Kind vor erneuten Missbrauchssituationen zu schützen und ihm ein Gefühl der Stabilität und des Schutzes zu vermitteln. Die betreuende Person sollte also versuchen, dem Kind das Vertrauen in sich und andere zurückzugeben, indem sie dem Kind Verlässlichkeit schenkt. Das ist allerdings alles andere als leicht: Gerade innerfamiliär missbrauchte Kinder können nur schwer Vertrauen in sich und andere erlangen, oft haben sie verständlicherweise große Angst, überhaupt neue Bindungen einzugehen. Um das Kind in diesem Fall nicht in einen inneren Zwiespalt zu bringen, sollte die Vertrauensperson es zunächst vermeiden, sich negativ über den Täter zu äußern. Denn die betroffenen Kinder haben häufig eine ambivalente Beziehung zum Täter, der ja eine wichtige Bezugsperson war. Oftmals gab es in diesen Beziehungen zunächst viel Nähe, Bestätigung und Zärtlichkeit, gerade für vernachlässigte Kinder waren das ganz neue, positive Erfahrungen. Die Taten stellten für diese Kinder dann häufig unverständliche, schmerzliche, mit Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen behaftete Situationen dar. Nur wenn das Kind sicher ist, kann überhaupt eine Verarbeitung der belastenden Erfahrungen und eine Infragestellung des Täters beginnen.
»Spuren der Erinnerung«: Welche Langzeitfolgen sexuelle Gewalterfahrungen für betroffene Kinder haben können
Auch wenn die unmittelbare Krise vorüber ist, brauchen viele Kinder weiterhin professionelle Hilfe. Häufig leiden sie an dem Vertrauensbruch ihres kindlichen Weltbildes, an großen Ängsten vor Beziehungen und starken Scham- und Schuldgefühlen. Auch die Beziehung zum eigenen Körpergestaltet sich nach der Aufdeckung der Taten oft als schwierig. Denn viele junge Opfer neigen dazu, ihren »missbrauchten« Körper auszugrenzen. »Ich habe oft das Gefühl, dass mein Körper mir gar nicht mehr gehört, ich kann ihn manchmal kaum bewegen und spüren«, erklärt ein 16-Jähriger, der als Kind jahrelang von einem Freund der Familie missbraucht wurde. »Dann schließe ich mich in mein Zimmer ein und warte, bis das Gefühl vorbeigeht.« Dass viele der Opfer später als Erwachsene an sexuellen Schwierigkeiten leiden, die ihre Partnerschaften gefährden oder es ihnen gar nicht erst möglich machen, sich emotional für einen Menschen zu öffnen, ist angesichts dessen kaum verwunderlich.
Häufig entwickeln betroffene Kinder nach den Taten überdies eine posttraumatische Belastungsstörung, ein seelisches Krankheitsbild, das sich infolge schwerer psychischer Traumata entwickeln kann. Es äußert sich bei Kindern zum Beispiel in einem ständigen Wiedererleben der Situation, in Alpträumen, Erregungs- und Angstzuständen oder auch Abgestumpftheit. Erhalten die jungen Opfer keine professionelle psychologische Hilfe, besteht die Gefahr, dass sich ihr Leiden chronifiziert: Das Geschehene kann zwar partiell »vergessen« werden, zeigt sich später unter Umständen aber in Amnesien – also Gedächtnisstörungen, die durch bestimmte Reize wieder aufgebrochen werden – oder tiefsitzenden Persönlichkeitsstörungen. Inzwischen weiß man, dass sexuell missbrauchte Kinder als Erwachsene häufig an Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen oder dissoziativen Persönlichkeitsstörungen leiden. Natürlich haben nicht alle Menschen, die diese Störungen entwickeln, zwangsläufig sexuelle Gewalt erlitten, und ebenso ist nicht jedes sexuell missbrauchte Kind davon betroffen – aber es gibt dennoch einen signifikanten statistischen Zusammenhang.
In Bezug auf die Borderline-Störung etwa vermutet die renommierte deutsche Psychoanalytikerin Christa Rohde-Dachser, dass 60 bis 80 Prozent aller Patienten und Patientinnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstruktur als Kind sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Die Borderline-Persönlichkeit wird in der psychiatrischen Definition auch als »emotional instabile Persönlichkeit« beschrieben und geht oft mit starkem Leidensdruck einher. Betroffene haben meist große Schwierigkeiten, Partnerschaften zu führen, weil sie in Beziehungen weder Nähe aushalten
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