Schaut nicht weg
Hilflosigkeit sogar mit Wut auf das betroffene Kind. Ohne dass es ihnen bewusst ist, machen sie ihrem Kind zum Vorwurf, nun mit dem eigenen – längst verdrängten – Leid konfrontiert zu werden. Schon nach wenigen Wochen erklären sie mitunter: »Jetzt muss aber mal gut sein!« Sie hoffen, damit die eigenen Ohnmachtsgefühle wieder wegschieben zu können. Und natürlich dreht sich nach einem Fall sexuellen Missbrauchs eine ganze Weile lang der Familienalltag fast nur noch um die Bewältigung des Geschehenen: Termine müssen wahrgenommen werden bei Beratungsstellen, der Polizei, dem Jugendamt, Rechtsanwälten und gegebenenfalls sogar der Schule oder dem Kindergarten des Kindes.
Nicht selten nehmen auch die Eltern irgendwann Termine bei den Beratungsstellen oder später auch Psychotherapeuten in Anspruch, um selbst mit dem Missbrauch ihrer Kinder und dessen Folgen für die ganze Familie besser zurechtkommen zu können. Das ist eine gute Idee – denn ein wichtiger erster Schritt der Verarbeitung ist häufig die Auseinandersetzung mit den Strategien der Täter und Täterinnen. Oft ist das sehr schmerzhaft, denn hierbei werden Eltern mitunter mit eigenen Unzulänglichkeiten konfrontiert,welche die Täter ausnutzen konnten, um erst eine Beziehung zum Opfer aufzubauen und anschließend das Schweigen der Kinder gegenüber den Eltern sichern zu können. Haben Mütter und Väter jedoch die Kraft, diese Auseinandersetzung anzunehmen, können sie die Erlebnisse ihrer Kinder viel besser verarbeiten – und die jungen Opfer auch. Denn ein offenes Gespräch mit den Kindern über die Strategien der Täter und die eigenen Anteile am Geschehen lässt die Kinder die Drohungen der Täter anders einordnen und vergessen. Erst so können viele Opfer ihre schrecklichen Ängste und Schuldgefühle abbauen und wieder Vertrauen fassen in andere Menschen.
»Das Kind schützen«: Welche Unterstützung Kinder mit sexuellen Gewalterfahrungen zunächst brauchen
Sexuell missbrauchte Kinder gehen ganz unterschiedlich mit dem Erlebten um. Ob ein Kind die Taten verarbeiten kann oder nicht, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab: von der Dauer und Schwere des Missbrauchs, der Identität des Täters, der Stigmatisierung der Tat, der Haltung der Familie zur Tat und auch von familiären Risikofaktoren wie Vernachlässigung oder körperlicher Misshandlung. Die Chance, dass es einem Kind gelingt, das Trauma zu überwinden, steht besser, wenn der Täter von außerhalb der Familie kommt – dann erfährt das Kind mit größerer Wahrscheinlichkeit Schutz und Unterstützung durch seine eigene Familie bei der Bewältigung des Erlebten und kann vielleicht besser einordnen, dass es selbst keinerlei Schuld an den Taten hat. Wird ein Kind hingegen durch ein Familienmitglied sexuell missbraucht, so ist die Situation weitaus schwieriger zu bewältigen. Zum einen, weil es ungewiss ist,inwieweit sich die Familie uneingeschränkt vom Täter distanzieren und dem Opfer Schutz bieten wird. Und zum anderen, weil auch die Gefühle des Kindes in dieser Situation oft ambivalent sind. Denn das Opfer sucht zwar Schutz vor den Taten, will aber gleichzeitig die Beziehung zum Täter oder den Zusammenhalt der Familie nicht zerstören. Eine junge Frau, die als kleines Mädchen jahrelang von ihrem Vater missbraucht wurde, schrieb beispielsweise: »Ich hatte nie den Mut, meinen Vater anzuzeigen, das hätte ich allein schon wegen meiner Mutter nicht machen können. Sie wäre daran zugrundegegangen und ich wollte meinem Erzeuger nicht die Möglichkeit geben, dann auch noch das Leben meiner Mutter kontrollieren zu können.« Das Mädchen verbarg also die Taten vor seiner Mutter, um diese zu schützen – auf Kosten der eigenen seelischen und körperlichen Gesundheit. Überdies sind viele Kinder zu Beginn der Tatzeit noch sehr jung und können den Missbrauch oft gar nicht als solchen einordnen, obwohl er ihnen enormes Leid und Schmerzen zufügt. Einem sexuell unreifen Kind sind die Handlungen des Erwachsenen beim sexuellen Übergriff ja völlig unverständlich: Es kann das Geschehen nicht integrieren. Während sich ein erwachsenes Opfer während der Taten zumindest emotional distanzieren kann (»Ich werde vergewaltigt«, »Was hier passiert, ist falsch«, »Das hier bin nicht ich«), besitzt ein Kind gerade diese Möglichkeit nicht. Es kann nicht verstehen, was mit ihm passiert – außer, dass es schrecklich wehtut, große Angst macht und ekelhaft ist.
Ist ein sexueller
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