Schaut nicht weg
hoher Wahrscheinlichkeit wieder zu einem Wechsel in den traumanahen Persönlichkeitszustand und nach wiederholter Aktivierung dieses Zustands möglicherweise zur Entwicklung eines völlig autonom agierenden »Persönlichkeitsanteils« oder sogar mehrerer »Persönlichkeitsanteile« – das Kind verfügt dann also über »multiple Persönlichkeiten«. Diagnostizieren kann man die Dissoziative Identitätsstörung allerdings erst im Erwachsenenalter. Für die Betroffenen bedeutet diese seelische Störung eine sehr große Beeinträchtigung, da es selbstverständlich alles andere als einfach ist, eine Beziehung zu führen oder einer Arbeitnachzugehen, wenn innerlich verschiedene, sich oft miteinander im Konflikt befindende Persönlichkeitsanteile vorhanden sind.
»Verletzungen an Körper und Seele«: Warum das wiederholte Erleben sexueller Gewalt bereits im frühesten Kindesalter hirnorganische Schäden verursachen kann
Laut Bundeskriminalamt werden die Opfer sexuellen Missbrauchs weltweit immer jünger. Täglich analysieren die Polizisten des BKA tausende pornografische Bilder und Videos von sexuell missbrauchten Kleinkindern und Babys – mediale Dokumentationen unfassbarer Verbrechen. Viele Menschen denken allerdings noch heute, dass traumatische Erfahrungen wie sexuelle Gewalt nur bei denjenigen kindlichen Opfern Spuren zu hinterlassen vermögen, die alt genug sind, um sich an die Taten erinnern zu können. »Das Kind ist gottseidank noch so klein, dass es später nichts mehr davon wissen wird«, lautet ein typischer Satz. Doch gerade das Gegenteil ist der Fall. Heute wissen wir, dass sich vor allem frühkindlich erlebte traumatische Beziehungserfahrungen wie zum Beispiel sexuelle Gewalt oder auch Vernachlässigung direkt in das kindliche Gehirn einbrennen. Denn gerade in den ersten zwei Lebensjahren ist das Gehirn eines kleinen Kindes anfällig für seelische Belastungen: In dieser Zeit bilden sich im kindlichen Gehirn sehr viele Nervenzellen an den Synapsen (Synaptogenese), das Gehirn wächst und hat viele neue Eindrücke zu bewältigen.
Erlebt das Baby oder Kleinkind allerdings wiederholt starken Stress, weil es zum Beispiel oft Angst hat, schüttet das Gehirn Stresshormone aus, die wiederum die Synaptogenese hemmen und die Nervenbahnen innerhalb des limbischenSystems verengen. Es sterben also viele Nervenzellen ab, obwohl sich das kindliche Gehirn ja eigentlich gerade in rasantem Wachstum befindet. Die Folge sind hirnorganische und biopsychische Schäden: Die traumatischen Bindungserfahrungen werden durch die Ausdünnung der synaptischen Verknüpfungen regelrecht in die Schaltkreise des Gehirns »eingebrannt« und das kindliche Gehirn bleibt »traumafixiert«, indem es die Entwicklung und Stabilisierung seiner synaptischen Netzwerke auf das Überleben in der angsteinflößenden Situation ausrichtet. Da unsere Gehirne immer jene Verbindungen zwischen Nervenzellen stabilisieren und ausbauen, die häufig benutzt werden, sind bei diesen Kindern also vor allem jene Vernetzungen besonders stabil, die der Vermeidung und der Abwehr von (vermeintlichen) Gefahren und erneuter Traumatisierung dienen. In anderen Worten: Das Kind befindet sich in einem permanenten Zustand seelischen Alarms und Stresses. Und diese frühen Prägungen gehen natürlich direkt ins somatische und vegetative Nervensystem über. »Das Kind verfügt dann nur noch über eine rudimentäre Fähigkeit zur Stressregulation, die es lebenslang beibehalten wird«, schreibt der renommierte kalifornische Neuropsychoanalytiker Allan Schore. »Und das ist keine gute Prognose, denn inzwischen wissen wir ja, dass gerade die unzureichende Regulationsfähigkeit von zwischenmenschlichem Stress kritisch für den Ausbruch psychischer Krankheiten sein kann.« Selbst in der Pubertät, während deren im Gehirn eine zweite Phase der Reorganisation und Umstrukturierung auftritt, kann das kindliche Gehirn diese frühen Schäden oft nicht wieder reparieren. Denn es werden zwar viele neue Verbindungen zwischen Nervenzellen geknüpft – doch es verschwinden auch viele. »Das bereits ausgedünnte Gehirn eines traumatisierten Kindes wird während dieser Zeit also weiterhin ausgedünnt«,erklärt Allan Schore. »Und dann kommen die Bindungsprobleme und Bindungsdefizite mitunter richtig zum Tragen. Wir sehen ja auch häufig, dass psychische Störungen wie Depressionen oder schwere Persönlichkeitsstörungen in dieser Zeit ihren Anfang nehmen.«
Es verwundert also kaum, dass über
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