Schaut nicht weg
oder die eigene Banalisierung des Erlebten (»Es ist ja nur zwei Mal passiert«) verhinderten eine bewusste Beschäftigung mit dem Erlebten. In manchen Fällen allerdings ist zunächst auch überhaupt keine Erinnerung vorhanden und erst somatische – also körperliche – Symptome wie Schluckbeschwerden, Unterleibsschmerzen oder Angstattacken führen an das Trauma heran. Der amerikanische Psychiater C. B. Brenneis etwa berichtete von einer Patientin, bei der ein bestimmter Geruch im Büro stets Angst auslöste. Im Laufe der Therapie assoziierte sie damit Alkohol und später auch männlichen Samen. Und sehr viel später erinnerte sie sich, von ihrem betrunkenen Vater missbraucht worden zu sein, einem Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Chef hatte. Erst über den »Umweg« der seelisch-körperlichen Reaktion konnte sie also ihrem Trauma auf die Spur kommen.
Doch welche Möglichkeiten haben erwachsene Frauen und Männer, das Trauma kindlich erlebter sexueller Gewalt auch Jahre später noch zu bearbeiten? Auch hier gilt: Nicht alle Betroffenen benötigen eine Psychotherapie. Man schätzt, dass knapp ein Drittel aller Opfer über Ressourcen zur »Selbstheilung« verfügt und das Erlebte ohne therapeutische Hilfe bearbeiten kann – vielleicht mit der Unterstützung der Familie, der Partner oder guter Freunde. Manchmal hilft auch ein Prozess gegen den Peiniger dabei, die Sache für sich abzuschließen – auch wenn es hart ist, sich nochmals mit dem Erlebten konfrontieren zu müssen. Für die meisten Opfer jedoch haben die sexuellen Gewalterlebnisseweitaus fatalere seelische Folgen und eine Psychotherapie ist unbedingt empfehlenswert. Vor allem diejenigen Betroffenen, die in der Kindheit über eine lange Zeit sexueller Gewalt ausgesetzt waren und anhaltend unter den Missbrauchserlebnissen leiden, möglicherweise in Form von Ängsten, Depressionen oder sogar Flashbacks und dissoziativen Tendenzen, sollten sich professionelle Hilfe suchen. Inzwischen gibt es verschiedene Psychotherapieansätze, mit deren Hilfe sich das Trauma bearbeiten lässt. »Ungeschehen machen« wird man die schrecklichen Erlebnisse zwar auch damit nicht können, denn eine Narbe bleibt eine Narbe. Und doch kann man damit leben lernen.
Welche Art von Psychotherapie ist aber nun die richtige für die Durcharbeitung von sexuellen Missbrauchserlebnissen? Die klassischen anerkannten Gesprächstherapieverfahren (Psychoanalyse, tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie oder Verhaltenstherapie) können hilfreich sein, wenn keine Traumatisierung vorliegt, wenn also konkrete Erinnerungen bewusst erhalten sind und keine Flashbacks oder dissoziativen Tendenzen vorliegen – das können Experten einschätzen. Im Falle eines Traumas jedoch sollte ein anderer Behandlungsansatz gewählt werden. Denn bei traumatisierten Menschen verarbeitet das Gehirn die betreffenden Erinnerungen ganz anders. Man muss sich das so vorstellen: Das Gehirn eines Menschen, der eine traumatisierende Situation erlebt (sei es sexuelle Gewalt, ein schwerer Autounfall oder eine Naturkatastrophe) befindet sich im äußersten Alarmzustand. In diesem »Ausnahmemodus« kann das Gehirn das, was es aufnimmt, nicht mehr verarbeiten. Insbesondere der Informationsverarbeitungsprozess zwischen der rechten und linken Gehirnhälfte ist gestört – die Verknüpfung zwischen den eingehenden »Bildern« der rechten Hirnhälfte und dem Sprachzentrum der linken Hirnhälfte ist also nicht mehr vorhanden.Das als schrecklich Erlebte kann infolgedessen nicht verbalisiert und sortiert werden, es gibt also keine »Sprache« für die bedrohlichen Erinnerungen. Stattdessen erleben Betroffene ihre Erinnerungen häufig als ungeordnet, bruchstückhaft, blitzartig und übermäßig gefühlsintensiv. Sie werden also überschwemmt von unverständlichen Erinnerungs-Versatzstücken (die bereits erwähnten »Flashbacks«). Insofern macht in diesen Fällen eine klassische Gesprächspsychotherapie, die ja auf der Durcharbeitung von konkreten Erinnerungen beruht, nur wenig Sinn. Sie kann sogar dem Klienten schaden, indem sie ihn überfordert und neue Flashbacks auslöst.
Die zwei derzeit erfolgreichsten Verfahren zur Behandlung traumatisierter Erwachsener sind die EMDR-Methode (Eye Movement Desensitization and Reprocessing, eine in den USA entwickelte psychotraumatologische Behandlungsmethode) sowie die von der Traumatherapeutin Luise Reddemann begründete Methode PITT (Psychodynamisch imaginative
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