Schaut nicht weg
wirklich umschreibt, das wissen nur die wenigsten. So denken viele Menschen noch heute, dass sexueller Missbrauch zwangsläufig den Tatbestand der Vergewaltigung beinhaltet. Doch das ist zu kurz gegriffen: Beim sexuellen Missbrauch steht die Vergewaltigung häufig erstam Ende eines länger andauernden Prozesses. Denn sexueller Missbrauch beginnt oft schon mit aufgezwungenen Küssen und Berührungen und steigert sich dann zu verschiedenen Formen der Vergewaltigung. Es gibt allerdings auch Formen sexueller Gewalt, bei denen es nicht zwangsläufig zu Berührungen zwischen Tätern und Opfern kommen muss. Dazu gehört zum Beispiel das Herstellen von kinderpornografischem Material ebenso wie das Anschauen von Pornofilmen zusammen mit Kindern. Auch die einmalige Begegnung mit einem Exhibitionisten ist eine Form von sexuellem Missbrauch, bei der es aber nicht zu Berührungen kommt.
Das Gesetz unterscheidet also folgerichtig zwischen verschiedenen Formen und Schweregraden von sexuellem Missbrauch. Zum Beispiel: Sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176 Strafgesetzbuch), Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (§ 176a Strafgesetzbuch), Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 Strafgesetzbuch), Verbreitung, Erwerb und Besitz von kinderpornografischen (§ 184b Strafgesetzbuch) beziehungsweise jugendpornografischen (§ 184c Strafgesetzbuch) Schriften. Diese Unterscheidungen sind wichtig für die Festlegung des Strafmaßes und der Verjährungsfristen. Für die Betroffenen spielen sie aber selten eine Rolle, denn es ist nicht möglich zu sagen, welche Form von sexuellem Missbrauch schlimmer für die Betroffenen ist oder sich gravierender auswirkt. Wir wissen inzwischen, dass sich jegliche Form sexuellen Missbrauchs traumatisierend auf die Opfer auswirken kann. Denn das Ausmaß der seelischen Folgen ist von vielen Faktoren abhängig: vom Alter des Kindes, als der sexuelle Missbrauch begann, von der Vertrautheit des Kindes mit dem Täter vor dem Missbrauch, von der Anwendung weiterer Formen von Gewalt zusätzlich zu den sexuellen Handlungen, von derReaktion der Umwelt des Kindes auf die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs und noch von vielen anderen Faktoren.
»Sex als Waffe«: Warum es beim sexuellen Missbrauch von Kindern weniger um Perversion als um Macht geht
Hinter dem sexuellen Missbrauch von Kindern verbirgt sich nur selten eine pervertierte Sexualität. Vielmehr kann sexueller Missbrauch als eine Form von Gewalt betrachtet werden, bei der sich die Täter als Waffe die sexuellen Handlungen auserwählt haben – etwa so, wie sich ein Messerstecher als Mittel zur Gewalt sein Messer auserwählt hat. Denn zum sexuellen Missbrauch gehört immer ein Machtgefälle. Stets ist der Täter viel mächtiger als sein Opfer: mächtiger etwa aufgrund seiner körperlichen Überlegenheit (zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch von behinderten Menschen oder Kindern), mächtiger aufgrund seiner geistigen Überlegenheit (zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch von Kleinkindern oder geistig behinderten Menschen) oder mächtiger aufgrund seiner beruflichen Position (beispielsweise in seiner Rolle als Lehrer/-in, Ausbilder/-in, Trainer/-in, Stiefelternteil oder leibliches Elternteil). Dabei interessiert es die Täter in keiner Weise, ob ihre Machtgelüste den Bedürfnissen der betroffenen Kinder und Jugendlichen entgegenstehen oder sogar schaden. Im Gegenteil: Es stellt für sie einen Kick dar, andere Menschen dazu zu bringen, Dinge zu tun, die diese nicht wollen. Sie fühlen sich gut, wenn sie jahrelang Kinder sexuell missbrauchen können, ohne dass jemand Verdacht schöpft oder Hinweise der Kinder ernst nimmt. Das Thema sexueller Missbrauch gehört also genauer genommen weniger in den Themenbereich »Sexualität« als in den Themenbereich »Gewalt« und »Umgang mit Grenzen«.
Typisch für das Machtbedürfnis der Täter ist etwa der enorme Geheimhaltungsdruck, der den betroffenen Kindern aufgezwungen wird und bei ihnen viele schlimme Folgesymptome hervorrufen kann. Im Verlauf des sexuellen Missbrauchs äußern Täter häufig Sätze wie »Das ist unser Geheimnis, du darfst es niemandem weitererzählen«, und je nach Alter des Kindes folgt am Ende dieses Satzes dann eine Lüge, Drohung oder Bestechung. Junge Kinder etwa können die Täter häufig noch durch Lügen zum Schweigen bringen. Kindergartenkindern gegenüber behaupten sie: »Das machen alle Großväter mit ihren Enkeln«, »Das macht man in Familien so«, »Das macht man, wenn man
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