Scheherazade macht Geschichten
gewöhnlich keine kostbare Seide.« Omar zögerte, als wäre er sich unschlüssig, ob er weiterreden sollte. »Das heißt, es gibt hier keine anderen lebenden Frauen. Nun ja, einige der Dienerinnen haben behauptet, daß dieser Ort verflucht ist und die Seelen derer hier wandeln, die lange vor ihrer Zeit diese Welt verlassen mußten.« Omar hüstelte verlegen. »Von solchen Seelen gäbe es hier wahrscheinlich eine ganze Menge, wenn man die Umstände bedenkt, unter denen wir hier seit einiger Zeit zu leben haben. Und wenn man dann noch bedenkt, auf welch schreckliche, blutige und ausgesprochen unangenehme Weise diese armen Seelen ihr Leben lassen mußten, könnte man durchaus auf den Gedanken kommen, daß sie auf grausame Rache an den Lebenden sinnen und wahrscheinlich genau dann zuschlagen, wenn man es am allerwenigsten erwartet. Doch diese Geschichten sind ja bloß dummes und harmloses Geschwätz, nicht wahr?« Der dicke Koloß kicherte erneut. »Das erinnert mich an ein anderes Gedicht.«
Sprachs und streckte beide Fäuste in Richtung der Decke. Nur die beiden kleinen Finger waren gespreizt und wiesen nach oben. Und dann trug Omar folgende Verse vor:
Gleich um die Ecke lauert er, der graus'ge Tod,
der schon so manchem hier ein schrecklich Bilde bot:
ein abgetrennter Kopf, ein eben erst Verblich'ner,
und da, ›ne Leich‹, die atmet schon
seit langem nich' mehr...
»Sehr schön«, unterbrach ihn Scheherazade. »Doch auch wenn deine Verse ganz vorzüglich geschmiedet sind, so fürchte ich, daß meine Schwester und ich uns jetzt zurückziehen müssen, um uns auszuruhen.«
Als er das hörte, runzelte Omar die Stirn. »Oje! Ich fürchte, dieses Gedicht war keines meiner besten. Aber es ist auch ziemlich schwer, einen Reim auf ›Verblich'ner‹ zu finden.« Für jemanden seines Umfanges und seiner Größe verbeugte sich Omar bemerkenswert tief und zog sich rückwärts gehend zur Tür zurück, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. »Ich höre und gehorche! Ich werde Euch jetzt verlassen, damit Ihr Eure wohlverdiente Ruhe finden möget.«
Scheherazade wandte sich an ihre Schwester, um sie zu fragen, was sie ihrer Meinung nach jetzt wohl am besten tun sollten. Doch Dunyazad hatte bereits den Raum durchquert und war in der Ecke angelangt, in der die geheimnisvolle Frau verschwunden war.
»Sie hat sich hinter diesen Wandschirm verzogen und war dann plötzlich weg«, erklärte sie, während sie ebenfalls hinter den Paravent trat. »Aber hier gibt es bloß zwei nackte, undurchdringliche Wände!«
»Nun ja, ich möchte Euch nicht mit Gerede über rachelüsterne Geister beunruhigen«, meinte Omar von der Tür her, in der er noch immer stand. »Es besteht gar kein Zweifel daran: Wenn sich in diesen Gemächern tatsächlich noch eine andere Frau aufgehalten haben sollte, dann werden wir auch herausfinden können, wie sie verschwunden ist. Den Gerüchten nach soll dieser Harem geradezu durchsiebt sein von geheimnisvollen Gängen und verborgenen Türen. In jenen fernen, zurückliegenden Tagen, als noch Leben herrschte in diesen Quartieren, da sollen diese Geheimgänge für Palastintrigen benutzt worden sein – ganz besonders für Meuchelmorde.« Omars Hüsteln hätte nicht verlegener sein können. »Laßt mich Euch versichern, daß stets nur wenig Blut vergossen wurde! Ja, in diesem Harem trat der Tod fast ausschließlich durch Gift ein. Was mich an ein anderes Gedicht erinnert.«
»Ach, wenn wir doch nicht so müde wären!« seufzte Scheherazade.
»Aber natürlich«, stimmte ihr Omar zu. »Ich höre und gehorche.« Er ergriff die Klinken der beiden Flügeltüren und begann diese zu schließen. »Vergeßt das mit dem Gift! Ich werde Euch bald etwas zu essen auftragen lassen. Ich bin sicher, daß Ihr beide einen ausgesprochen ruhigen Tag verbringen werdet.« Die Tür schlug ins Schloß, und Omar war verschwunden.
»Was geht hier vor?« fragte Dunyazad mit einiger Bestürzung.
Ihre Schwester überlegte eine Weile, bevor sie antwortete. »Der Teil des Palastes, in dem sich der Harem befindet, ist ausgesprochen weitläufig und verlassen – und aus eben diesen Gründen auch recht unheimlich. Doch herrscht hier nicht allein eine unheimliche Atmosphäre. Nein, dieser Harem hat seine eigene Geschichte, und die ist noch nicht zu Ende erzählt. Ich fürchte, daß hier, innerhalb dieser Wände, noch andere Mächte am Werke sind, die alle ihr Scherflein zu den Problemen des Königs beitragen.«
Dunyazad
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