Scheherazade macht Geschichten
Zeitpunkt gekommen war, eine weitere und vielleicht noch direktere Frage über etwaige dauerhafte Bewohner des Harems zu stellen: »Es gibt also keine andere Frau, die sich irgendwo in diesem riesigen Harem aufhält?«
Die Dienerinnen sahen einander eine Weile an, bevor die zweite der drei, die bisher gesprochen hatten, antwortete: »Es gibt auch Gerüchte, daß eine der Frauen dem Schwert des Königs entkommen ist.«
Die dritte Sklavin fügte hinzu: »Und daß sie irgendwo in den entlegeneren Gemächern und in den geheimen Winkeln und Ecken dieses riesigen Gebäudes lebt, in der Furcht, daß sie eines Tages entdeckt und endgültig dem Tode überantwortet werden könnte!«
Die erste der drei Dienerinnen sah ihre beiden Gefährtinnen an. »Wenn es tatsächlich eine solche Frau gibt, dann ist vermutlich sie es, die Ihr gesehen habt. Die Gemächer der Königin wurden vor Eurer Ankunft immerhin dreihundert Tage lang nicht benutzt.«
Alle verstummten, als sie in der Ferne einen Gong schlagen hörten.
»Der König hat sein Tagwerk beendet«, verkündete die erste Sklavin. »Es wird Zeit für Euch, Seiner königlichen Hoheit Eure Aufwartung zu machen.«
Scheherazade sah zum Eingang des Badehauses hinüber, wo bereits Omar lautlos über den Boden heranglitt, um sie und ihre Schwester abzuholen.
Dunyazad raffte ihre wallenden Gewänder enger an sich und lehnte sich zu ihrer Schwester hinüber.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie zu Scheherazade. »Haben wir heute in unserem Gespräch mit den Dienerinnen etwas Wichtiges erfahren?«
»Aber natürlich«, entgegnete Scheherazade rasch. »Ich bin mir sicher, daß all diese Geheimnisse etwas mit der Person des Königs selbst zu tun haben. Mehr kann ich noch nicht sagen.«
Sie fügte nicht hinzu, daß sie sich inzwischen auch sicher war, daß ihrer beider Schicksal von nun an fest mit den rätselhaften Geschehnissen in diesem Palast verknüpft sein würde. Wie sonst hätte sie sich dieses Gefühl erklären können, das sie schon den ganzen Nachmittag über gehabt hatte; dieses Gefühl, daß jemand ganz in ihrer Nähe in den tiefen Schatten des Harems lauerte und argwöhnisch alles beobachtete, was darin vor sich ging?
Das 6. der 35 Kapitel,
in dem Geschichten innerhalb von Geschichten entdeckt werden und Geheimnisse innerhalb von Geheimnissen.
Und so senkte sich also wieder einmal die Nacht über die große Stadt, und Scheherazade wurde zum zweiten Male vor den König gerufen. Und erneut ging Dunyazad mit ihrer Schwester, denn sie spielte in diesem ganzen seltsamen Geschehen ja eine entscheidende Rolle.
Diesmal wurden sie von Omar begleitet, dessen Bewegungen alle völlig lautlos vor sich gingen. Nur ab und zu war ein leises Wispern aus seiner Richtung zu vernehmen, Worte, kaum hörbar, wie: »Was für eine Schande! Was für eine Verschwendung! So jung! So lieblich!« Er warf einen Blick auf die Frauen, und mit etwas lauterer Stimme fügte er hinzu: »Ich glaube, die Situation verlangt nach einem Gedicht.«
Scheherazade wollte zuerst widersprechen, diesem Sklaven vielleicht sogar befehlen, kein einziges weiteres Wort mehr zu verlieren, denn immerhin war sie ja die Königin. Doch dann überlegte sie es sich anders. Vielleicht konnte sie diesen Mann, der nur danach streben konnte, Oberster Eunuche zu werden, zu ihrem Verbündeten machen, denn in einem Harem wie diesem hier konnte es sicher nicht falsch sein, ein paar Freunde zu haben. Wer wußte schon, welche Überraschungen sie hier noch erwarteten?
Also entschied sich die Königin zu schweigen, während Omar zu sprechen anhub:
Der Harem ist ein abgelegner Ort,
Und verlassen fühlt man schnell sich dort.
Begehrt der König Euch nicht mehr,
Bedauert Ihr das bald schon sehr.
An dieser Stelle kamen Scheherazade jedoch die ersten Zweifel, ob sie sich wirklich mit jemandem befreunden wollte, der so versessen darauf war, selbstverfaßte... nun ja, Gedichte vorzutragen.
Und als ob er ihre Zweifel noch bestärken wollte, begann Omar mit der zweiten Strophe:
Palastintrigen setzen schwer Euch zu,
Im Harem, glaubt mir, kommt man nie zur Ruh'.
Doch findet Ihr, sucht Ihr nach Trost,
Diesen gewiß an meiner weichen Brust.
»Vielleicht ist Omar ja gar nicht so ein finsterer Geselle, wie es auf den ersten Blick scheint«, flüsterte Dunyazad ihrer Schwester zu. »Er scheint uns eben seine Freundschaft anzubieten.«
»Glaubst du wirklich?« erwiderte Scheherazade. Vielleicht lag
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