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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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wir sind frei. Ich wende mich zur Treppe, um zu fliehen, doch sie reißt mich mit einem Ruck zurück.
    »Nicht da lang«, sagt sie. »Wir können nicht raus. Es gibt keinen Schlüssel für die Haustür. Nur die Mutter kann sie aufsperren.«
    »Wohin dann?«
    »Ich zeig’s dir.«
    Sie zerrt mich den Flur entlang. Ich kann fast nichts sehen und vertraue mich ihr ganz und gar an, lasse mich von ihr durch eine Tür führen. Mondlicht schimmert durchs Fenster, und wie ein bleiches Gespenst gleitet sie durch das Schlafzimmer, nimmt einen Stuhl und stellt ihn leise in die Mitte des Raums.
    »Was tust du da?«
    Statt zu antworten, steigt sie auf den Stuhl und reckt die Hand zur Decke. Über ihrem Kopf öffnet sich knarrend eine Luke, und eine Leiter klappt herunter.
    »Wohin führt die?«, frage ich.
    »Du wolltest doch frische Luft, oder? Na los, wir schauen mal, wo wir welche finden«, sagt sie und klettert hinauf.
    Ich erklimme hinter ihr die Sprossen und zwänge mich durch die Luke. Wir stehen auf einem Dachboden; durch ein einzelnes Fenster fällt Mondlicht herein, und ich sehe die Umrisse von Kisten und alten Möbeln. Die Luft ist muffig hier oben, alles andere als frisch. Olena öffnet das Fenster und klettert hindurch. Da fällt es mir erst auf: dieses Fenster ist nicht vergittert. Als ich den Kopf hinausstrecke, sehe ich auch, warum. Es ist viel zu hoch. Auf diesem Weg gibt es kein Entkommen; zu springen wäre reiner Selbstmord.
    »Na, was ist?«, fragt Olena. »Willst du nicht auch rauskommen?«
    Ich drehe den Kopf und sehe, dass sie auf dem Dach sitzt und eine Zigarette raucht. Wieder schaue ich nach unten, und meine Hände werden ganz feucht bei dem Gedanken, das ich durch das Fenster auf das Sims klettern soll.
    »Sei doch nicht so ein Angsthase«, sagt Olena. »Was ist denn schon dabei? Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass du runterfällst und dir den Hals brichst.«
    Ihre Zigarette glimmt, und ich rieche den Rauch, als sie lässig eine Lunge voll in die Luft bläst. Sie ist überhaupt nicht nervös. In diesem Moment will ich ganz genau so sein wie sie. Ich will auch so furchtlos sein.
    Ich klettere aus dem Fenster, balanciere vorsichtig über das Sims und lasse mich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung neben ihr aufs Dach sinken. Sie schüttelt die Decke aus und wirft sie uns über die Schultern, so dass wir gemütlich unter dem warmen wollenen Umhang nebeneinander hocken.
    »Das ist mein Geheimnis«, sagt sie. »Du bist die Einzige, der ich zutraue, dass sie es für sich behält.«
    »Wieso ich?«
    »Katya würde mich für eine Schachtel Pralinen verraten und verkaufen. Und diese Nadia ist zu blöd, um den Mund zu halten. Aber du bist anders.« Sie sieht mich an, und ihr Blick ist nachdenklich. Beinahe zärtlich. »Du bist vielleicht ein Angsthase. Aber du bist nicht blöd, und du bist keine Verräterin.«
    Von ihrem Lob wird mir ganz heiß im Gesicht, und die Freude, die durch meine Adern strömt, ist besser als jede Droge. Besser als Liebe. Plötzlich schießt mir ein verwegener Gedanke durch den Kopf: Für dich würde ich alles tun, Olena. Ich rücke näher an sie heran, suche ihre Wärme. Von Männern und ihren Körpern habe ich immer nur Grobheit erfahren. Aber Olenas Körper schenkt mir Trost; die sanften Kurven und das Haar, das wie Seide über mein Gesicht streicht. Ich betrachte ihre glimmende Zigarettenspitze und sehe zu, wie sie elegant die Asche wegschnippt.
    »Auch mal ziehen?«, fragt sie und bietet mir die Zigarette an.
    »Ich rauche nicht.«
    »Ha. Na, ist ja auch ungesund«, sagt sie und zieht noch einmal. »Für mich auch, aber ich werde sie trotzdem nicht verkommen lassen.«
    »Wo hast du sie her?«
    »Von dem Boot. Hab ’ne ganze Schachtel eingesteckt, und niemand hat’s gemerkt.«
    »Du hast sie gestohlen?«
    Sie lacht. »Ich stehle eine Menge Sachen. Was glaubst du denn, wie ich an den Schlüssel rangekommen bin? Die Mutter denkt, sie hat ihn verloren, die dumme Kuh.« Olena nimmt noch einen Zug, und ihr Gesicht leuchtet einen Moment lang orange. »Das hab ich drüben in Moskau gemacht. Ich war richtig gut. Wenn du Englisch sprichst, lassen sie dich in jedes Hotel rein, und da findest du immer einen Freier. Und kannst ein paar Taschen leeren.« Sie blies eine Lunge voll Rauch aus. »Deswegen kann ich nicht mehr nach Hause. Ich bin dort zu bekannt.«
    »Willst du denn nicht zurück?«
    Sie zuckt mit den Achseln und klopft die Asche ab. »Da gibt es nichts für mich.

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