Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
hinter uns.
    Ich weiß, warum wir zu der Party gehen; ich weiß, was von uns erwartet wird. Trotzdem kommt es mir vor wie eine Flucht, denn es ist das erste Mal seit Wochen, dass wir das Haus verlassen dürfen, und ich drücke begierig die Nase an die Scheibe und spähe hinaus, als wir in eine Asphaltstraße einbiegen. Ich sehe das Schild: DEERFIELD ROAD.
    Wir fahren sehr lange.
    Ich halte Ausschau nach den Straßenschildern, lese die Namen der Städte, durch die wir fahren. RESTON und ARLINGTON und WOODBRIDGE. Ich schaue die Leute in anderen Autos an und frage mich, ob irgendeiner von ihnen das stumme Flehen in meinem Blick sehen kann. Ob irgendeiner von ihnen sich für unser Schicksal interessieren würde. Eine Fahrerin auf der Spur neben uns sieht zu mir herüber, und für einen Moment treffen sich unsere Blicke. Dann wendet sie ihre Aufmerksamkeit wieder der Straße zu. Was hat sie wirklich gesehen? Nur ein rothaariges Mädchen in einem schwarzen Kleid, das sich einen schönen Abend in der Stadt machen will. Die Leute sehen nur, was zu ihren Erwartungen passt. Sie kommen nie auf den Gedanken, dass sich hinter einer hübschen Fassade etwas Schreckliches verbergen könnte.
    Jetzt sehe ich schon ab und zu das Wasser, einen breiten Streifen davon, noch in weiter Ferne. Als der Bus schließlich anhält, erkenne ich, dass wir an einem Kai parken, an dem eine große Motoryacht festgemacht ist. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Party heute Abend auf einem Boot stattfinden würde. Die anderen Mädchen recken die Hälse, um besser sehen zu können, und sind neugierig zu erfahren, wie es im Inneren einer solchen Luxusyacht aussieht. Und ein bisschen fürchten sie sich auch.
    Die Mutter schiebt die Bustür auf. »Das sind wichtige Männer. Ihr werdet lächeln und fröhlich sein. Habt ihr verstanden?«
    »Ja, Mutter«, murmeln wir.
    »Raus mit euch.«
    Als wir aus dem Bus klettern, höre ich Olena mit schwerer Zunge sagen: »Fick dich doch ins Knie, Mutter«, aber niemand sonst bekommt es mit.
    Mühsam auf unseren hohen Absätzen balancierend, bibbernd in unseren dünnen Abendkleidern, staksen wir im Gänsemarsch die Rampe zum Boot hinauf. An Deck wartet ein Mann auf uns. Schon an der Art, wie die Mutter ihm entgegeneilt, um ihn zu begrüßen, erkenne ich, dass der Mann sehr wichtig sein muss. Er betrachtet uns flüchtig und nickt anerkennend. »Bringen Sie sie rein«, sagt er auf Englisch zur Mutter, »und flößen Sie ihnen ein paar Drinks ein. Ich will, dass sie in Stimmung sind, wenn unsere Gäste eintreffen.«
    »Ja, Mr. Desmond.«
    Der Blick des Mannes bleibt an Olena haften, die auf wackligen Beinen an der Reling steht. »Wird die da uns wieder Ärger machen?«
    »Sie hat die Tabletten genommen. Sie wird ruhig bleiben.«
    »Na, das will ich ihr auch geraten haben. Ich will nicht, dass sie heute Abend plötzlich anfängt, verrückt zu spielen.«
    »Los!«, befiehlt uns die Mutter. »Rein mit euch.«
    Wir schlüpfen durch die Tür in die Kabine, und ich bin zunächst vollkommen geblendet von dem, was ich da sehe.
    Über unseren Köpfen glitzert ein Kristalllüster. Ich sehe mit dunklem Holz vertäfelte Wände, Sofas mit cremefarbenem Wildlederbezug. Ein Barkeeper lässt den Korken knallen, und ein Kellner mit weißer Jacke serviert uns Champagner in schlanken Flöten.
    »Trinkt«, sagt die Mutter. »Sucht euch einen Platz, und seid fröhlich.«
    Wir nehmen uns jede ein Glas und verteilen uns in der Bar. Olena setzt sich neben mich auf das Sofa, nippt an ihrem Champagner und schlägt die langen Beine übereinander, so dass die Haut ihres Oberschenkels durch den Schlitz im Kleid hervorlugt.
    »Ich behalte dich im Auge«, warnt die Mutter Olena auf Russisch.
    Olena zuckt mit den Achseln. »Das tun alle anderen auch.«
    Der Barkeeper verkündet: »Sie sind da.«
    Die Mutter wirft Olena noch einen letzten drohenden Blick zu und verschwindet dann durch eine Hintertür.
    »Merkst du, wie sie ihr Gesicht verstecken muss?«, meint Olena. »Die will niemand anschauen.«
    »Psst«, wispere ich. »Bring uns nicht in Schwierigkeiten.«
    »Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, meine süße kleine Mila: Wir stecken bereits in Schwierigkeiten.«
    Wir hören Gelächter und herzliche Begrüßungen zwischen Kollegen. Amerikaner. Die Tür geht auf, und alle Mädchen schnellen von ihren Plätzen hoch und lächeln, als die vier Männer eintreten. Einer von ihnen ist der Gastgeber, Mr. Desmond, der uns an Deck in Empfang

Weitere Kostenlose Bücher