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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Deswegen bin ich ja weggegangen.«
    Ich blicke zum Himmel auf. Die Sterne sind wie zornige Nadelstiche aus Licht. »Hier gibt es doch auch nichts für uns. Ich habe nicht gewusst, dass es so sein würde.«
    »Du denkst daran abzuhauen, nicht wahr, Mila?«
    »Du nicht?«
    »Und wohin würdest du gehen? Meinst du vielleicht, deine Eltern wollen dich wiederhaben? Wenn sie einmal dahinterkommen, was du hier gemacht hast?«
    »Ich habe nur noch meine Großmutter.«
    »Und was würdest du in Kryvichy machen, wenn alle deine Träume in Erfüllung gingen? Reich werden, einen netten Mann heiraten?«
    »Ich habe keine Träume«, flüstere ich.
    »Das ist auch besser so.« Olena lacht bitter auf. »Dann kannst du nicht enttäuscht werden.«
    »Aber überall ist es besser als hier.«
    »Meinst du?« Sie sieht mich von der Seite an. »Ich hab mal ein Mädchen gekannt, das abgehauen ist. Wir waren auf einer Party, so wie heute Abend. In Mr. Desmonds Haus. Sie ist aus einem Fenster geklettert und entwischt. Und das war auch schon ihr erstes Problem.«
    »Wieso?«
    »Was willst du da draußen essen? Wo willst du wohnen? Wenn du keine Papiere hast, kannst du nur überleben, indem du auf den Strich gehst, und das kannst du schließlich auch hier haben. Am Ende ist sie also zur Polizei gegangen, und weißt du, was dann passiert ist? Sie haben sie abgeschoben, zurück nach Weißrussland.« Olena stieß eine Rauchwolke aus und sah mich an. »Traue niemals der Polizei. Das sind nicht deine Freunde.«
    »Aber sie ist entkommen. Sie ist nach Hause zurückgekehrt.«
    »Weißt du, was passiert, wenn du abhaust und nach Hause zurückgehst? Sie werden dich dort finden. Sie werden auch deine Familie finden. Und wenn sie euch finden, dann wäre es besser für euch, ihr wäret tot.« Olena drückt ihre Zigarette aus. »Das hier ist vielleicht die Hölle. Aber wenigstens machen sie nicht Hackfleisch aus dir, wie sie’s mit ihr gemacht haben.«
    Ich zittere, aber es ist nicht die Kälte. Ich muss wieder an Anja denken. Immer muss ich an die arme Anja denken, die versucht hat wegzulaufen. Ich frage mich, ob sie immer noch da draußen in der Wüste liegt. Ob ihr Fleisch inzwischen schon verwest ist.
    »Wir haben keine Wahl«, flüstere ich. »Wir haben überhaupt keine Wahl.«
    »Klar haben wir eine Wahl. Wir können ihr Spiel mitspielen. Jeden Tag ein paar Männer ficken, ihnen geben, was sie wollen. In ein paar Monaten, in einem Jahr vielleicht, kriegt die Mutter eine neue Lieferung Mädchen, und du bist nur noch gebrauchte Ware. Und dann lassen sie dich laufen. Dann bist du frei. Aber wenn du vorher wegzulaufen versuchst, müssen sie an dir ein Exempel statuieren.«
    Sie sieht mich an. Ich schrecke zurück, als sie plötzlich die Hand ausstreckt und mein Gesicht berührt. Ihre Finger verweilen auf meiner Wange, und sie ziehen eine Spur der Wärme über meine Haut. »Sieh zu, dass du am Leben bleibst, Mila«, sagt sie. »Irgendwann ist das hier auch vorbei.«

14
    Selbst nach den vornehmen Maßstäben von Beacon Hill war das Haus beeindruckend: das größte in einer Straße, in der sich eine Nobelresidenz an die andere reihte, alle seit Generationen bewohnt von Vertretern der alteingesessenen Bostoner Elite. Gabriel war zum ersten Mal in diesem Haus zu Gast, und unter anderen Umständen hätte er vielleicht noch einen Moment auf dem Kopfsteinpflaster des Gehwegs verweilt, um im schwindenden Tageslicht den gemeißelten Türsturz zu bewundern, die dekorativen Kunstschmiedearbeiten und den prunkvollen Messingtürklopfer. Heute jedoch verschwendete er keinen Gedanken an architektonische Details, sondern sprang sogleich die Stufen zur Haustür hinauf und drückte auf die Klingel.
    Eine junge Frau öffnete ihm. Sie trug eine Hornbrille, durch die sie ihn mit kühl-abschätzendem Blick musterte. Seine neueste Türhüterin, dachte er. Diese Assistentin kannte er noch nicht, aber sie schien in das Muster der typischen Conway-Angestellten zu passen: hochintelligent und tüchtig, vermutlich mit Harvard-Diplom.
Conways Eierköpfe
wurden sie hier in Beacon Hill genannt; ein Kader von jungen Männern und Frauen, die für ihre intellektuelle Schärfe ebenso bekannt waren wie für ihre uneingeschränkte Loyalität gegenüber dem Senator.
    »Mein Name ist Gabriel Dean«, sagte er. »Ich bin mit Senator Conway verabredet.«
    »Die Herren warten bereits in seinem Büro auf Sie, Agent Dean.«
    Die Herren?
    »Folgen Sie mir.« Sie machte kehrt und führte ihn forschen

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