Scheintot
Wynne sehr beunruhigt«, erwiderte Silver. »Und da gibt es noch ein weiteres Detail, das uns Sorgen bereitet. Ich muss zugeben, dass ich seine Bedeutung auch nicht gleich erkannt habe, als ich die Aufzeichnung zum ersten Mal hörte.«
»Welche Aufzeichnung?«
»Die des Anrufs der Frau bei dem Radiosender. Wir haben ihre Sprache von einem Linguisten des Verteidigungsministeriums analysieren lassen. Ihre Grammatik ist nahezu perfekt – fast zu perfekt. Keine Verkürzungen, kein Slang. Die Frau ist definitiv keine gebürtige Amerikanerin.«
»Der Unterhändler des Boston PD ist zu demselben Schluss gekommen.«
»Und genau das ist es, was uns beunruhigt. Wenn man sich genau anhört, was sie sagt – besonders diese Formulierung, die sie benutzt hat: ›Die Würfel sind gefallen‹ –, dann kann man den Akzent heraushören. Er ist eindeutig vorhanden. Es könnte Russisch sein oder Ukrainisch oder irgendeine andere osteuropäische Sprache. Es ist unmöglich, ihre genaue Herkunft zu ermitteln, aber jedenfalls ist es ein slawischer Akzent.«
»Das ist es, was das Weiße Haus so beunruhigt«, erklärte Conway.
Gabriel runzelte die Stirn. »Die Regierung vermutet einen terroristischen Hintergrund?«
»Tschetschenische Terroristen, um genau zu sein«, sagte Silver. »Wir wissen nicht, wer diese Frau ist oder wie sie in dieses Land gekommen ist. Wir wissen aber, dass die Tschetschenen bei ihren Anschlägen oft weibliche Kombattanten einsetzen. Bei der Geiselnahme in dem Moskauer Musicaltheater waren mehrere Frauen mit Sprengstoffgürteln im Einsatz. Dann waren da die zwei Passagierjets, die vor einigen Jahren in Südrussland abstürzten, nachdem sie in Moskau gestartet waren. Wir glauben, dass beide von weiblichen Passagieren zum Absturz gebracht wurden, die Bomben an Bord geschmuggelt hatten. Es geht also darum, dass gerade diese Terrorgruppen bei ihren Anschlägen mit Vorliebe Frauen einsetzen. Das ist die große Sorge unseres obersten Geheimdienstkoordinators: dass wir es hier mit Leuten zu tun haben, die gar nicht an Verhandlungen interessiert sind. Sie rechnen möglicherweise fest damit zu sterben – und zwar auf spektakuläre Weise.«
»Die Tschetschenen kämpfen aber doch gegen Moskau. Nicht gegen uns.«
»Der Krieg gegen den Terror ist eine globale Angelegenheit. Das ist genau der Grund, weshalb das Amt des DNI ins Leben gerufen wurde – um sicherzustellen, dass so etwas wie der 11. September nie wieder vorkommt. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass alle unsere Nachrichtendienste zusammenarbeiten – und nicht aneinander vorbei, wie es in der Vergangenheit gelegentlich vorgekommen ist. Keine Rivalitäten mehr, keine neuen Folgen von ›Spion gegen Spion‹. Wir sitzen alle in einem Boot. Und wir sind uns alle einig, dass der Hafen von Boston ein verlockendes Ziel für Terroristen ist. Sie könnten es auf Treibstofflager abgesehen haben oder auf einen Tanker. Ein einziges mit Sprengstoff bepacktes Motorboot könnte eine Katastrophe auslösen.« Er hielt inne. »Diese Geiselnehmerin wurde doch im Wasser gefunden, nicht wahr?«
Conway wandte sich an Gabriel. »Sie scheinen skeptisch, Agent Dean. Was stört Sie an der Theorie?«
»Wir sprechen doch von einer Frau, die durch Zufall in diese Situation geraten ist. Sie wissen doch, dass sie als vermeintliche Wasserleiche in die Gerichtsmedizin eingeliefert wurde? Und dass man sie ins Krankenhaus gebracht hat, nachdem sie aufgewacht war?«
»Ja«, antwortete Silver. »Eine bizarre Geschichte.«
»Sie war ganz allein …«
»Jetzt ist sie nicht mehr allein. Sie hat jetzt einen Partner.«
»Das hört sich aber kaum nach einem geplanten Terrorakt an.«
»Wir sagen ja nicht, dass die Geiselnahme geplant war. Das Timing wurde ihnen durch die Umstände aufgezwungen. Vielleicht fing tatsächlich alles mit einem Zufall an. Vielleicht ist sie während des Versuchs, sie in die Staaten einzuschleusen, über Bord gefallen. Dann wacht sie im Krankenhaus auf, und ihr ist klar, dass sie von den Behörden vernommen werden wird, worauf sie in Panik gerät. Sie ist vielleicht nur ein Arm des Kraken, ein Teil einer wesentlich größeren Operation. Einer Operation, die nun vorzeitig aufgeflogen ist.«
»Joseph Roke ist kein Russe, sondern Amerikaner.«
»Ja, wir wissen das eine oder andere über Mr. Roke aus seiner Militärakte«, sagte Silver.
»Er ist wohl kaum das, was man sich unter einem typischen Tschetschenien-Sympathisanten vorstellt.«
»Wussten Sie, dass
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