Scheintot
wollte. Maura ignorierte die bösen Blicke der anderen Patienten und ging gleich durch bis zum Schalter. Dort klopfte sie an die Scheibe.
»Sie müssen schon warten, bis Sie dran sind«, sagte die Aufnahmeschwester.
»Ich bin Dr. Isles. Ich bringe die Überweisungspapiere für eine Patientin. Der Arzt wird sie sehen wollen.«
»Welche Patientin?«
»Die Frau, die gerade von gegenüber eingeliefert wurde.«
»Sie meinen die Dame aus dem Leichenschauhaus?«
Maura hielt inne, als ihr klar wurde, dass die in der Schlange stehenden Patienten jedes Wort hören konnten.
»Ja«, antwortete sie knapp.
»Dann gehen Sie bitte durch. Ihr Typ wird dort verlangt. Sie haben ziemlichen Ärger mit ihr.«
Der Summer ertönte, und Maura stieß die Tür zu den Behandlungsräumen auf. Sofort erkannte sie, was die Aufnahmeschwester mit »Ärger« gemeint hatte. Die Unbekannte war noch nicht in einen der Behandlungsräume gebracht worden. Sie lag im Flur, und man hatte eine Heizdecke über sie gebreitet. Die beiden Sanitäter mühten sich gemeinsam mit einer Krankenschwester, die Patientin im Zaum zu halten.
»Zieh den Riemen stramm!«
»Mist – ihre Hand ist schon wieder draußen …«
»Vergiss die Sauerstoffmaske. Die braucht sie nicht.«
»Pass auf! Sie reißt sich den Zugang raus!«
Maura stürzte auf die Trage zu und packte das Handgelenk der Patientin, ehe sie sich den Infusionskatheter aus der Vene ziehen konnte. Lange schwarze Haare schlugen Maura ins Gesicht, als die unbekannte Frau versuchte, sich loszuwinden. Noch vor zwanzig Minuten hatte sie als Scheintote mit blauen Lippen in einem Leichensack gelegen. Jetzt gelang es ihnen kaum, sie zu überwältigen, als neues Leben mit Macht in ihre Glieder strömte.
»Festhalten! Halten Sie ihren Arm fest!«
Der Laut setzte ganz tief in der Kehle der Frau an. Es war das Stöhnen eines verwundeten Tieres. Dann bog sie den Kopf in den Nacken, und der Klagelaut steigerte sich zu einem durchdringenden Schrei, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Nicht menschlich, dachte Maura, und ihre Nackenhaare richteten sich auf.
Mein Gott, was habe ich da von den Toten
auferweckt?
»Hören Sie mich an.
Hören Sie!
«
,
kommandierte Maura. Sie nahm den Kopf der Frau in beide Hände und blickte in das von Panik verzerrte Gesicht. »Ich sorge dafür, dass Ihnen nichts geschieht. Das verspreche ich Ihnen. Sie müssen sich von uns helfen lassen.«
Beim Klang von Mauras Stimme beruhigte die Frau sich. Die blauen Augen blickten starr, die Pupillen zu großen schwarzen Seen geweitet.
Eine der Schwestern begann unauffällig einen Riemen um das Handgelenk der Frau zu schlingen.
Nein, dachte Maura. Tun Sie das nicht.
Sobald der Riemen das Handgelenk der Frau berührte, fuhr sie zusammen, als hätte man sie verbrüht. Ihr Arm schnellte durch die Luft, und Maura taumelte rückwärts. Ihre Wange brannte von dem Schlag, den sie abbekommen hatte.
»Wir brauchen Verstärkung!«, rief die Schwester. »Könnte Dr. Cutler vielleicht mal herkommen?«
Mit schmerzhaft pochendem Gesicht trat Maura ein paar Schritte zurück, als ein Arzt und eine weitere Schwester aus einem der Behandlungsräume herauskamen. Der Tumult hatte die Aufmerksamkeit der anderen Patienten im Wartebereich geweckt. Maura sah sie neugierig durch die gläserne Trennwand spähen, gebannt von der Szene, die sich vor ihren Augen abspielte – eine Szene, die jede Episode von
Emergency Room
in den Schatten stellte.
»Wissen wir, ob sie irgendwelche Allergien hat?«, fragte der Arzt.
»Keine Krankengeschichte«, erwiderte die Schwester.
»Was geht hier eigentlich vor? Wieso ist sie so außer sich?«
»Wir haben nicht die geringste Ahnung.«
»Okay. Okay, versuchen wir’s mit fünf Milligramm Haldol i.v.«
»Der Katheter ist draußen!«
»Dann verabreichen Sie’s ihr i.m. Aber schnell! Und wir sollten ihr auch Valium geben, ehe sie sich etwas antun kann.«
Die Frau stieß erneut einen schrillen Schrei aus, als die Nadel durch ihre Haut drang.
»Wissen wir irgendetwas über diese Frau? Wer ist sie?«
Plötzlich bemerkte der Arzt Maura, die in einiger Entfernung von der Trage stand. »Sind Sie eine Verwandte?«
»Ich habe den Rettungswagen gerufen. Ich bin Dr. Isles.«
»Ihre Hausärztin?«
Bevor Maura antworten konnte, sagte einer der Sanitäter: »Dr. Isles ist die Gerichtsmedizinerin. Das ist die Patientin, die im Leichenschauhaus aufgewacht ist.«
Der Arzt starrte Maura an. »Sie machen wohl Witze.«
»Ich war
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