Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
schmeckte. Sie beatmete die Frau mit drei tiefen Stößen und legte dann die Finger an ihre Halsschlagader, um nach einem Puls zu tasten.
    Bilde ich mir das nur ein? Ist es mein eigener Puls, den ich da fühle, das Pochen des Bluts in meinen Fingerspitzen?
    Sie griff nach dem Wandtelefon und wählte die 911.
    »Notrufzentrale.«
    »Hier spricht Dr. Isles, ich rufe aus der Rechtsmedizin an. Ich brauche einen Rettungswagen. Ich habe hier eine Frau mit Atemstillstand …«
    »Verzeihung, sagten Sie eben ›Rechtsmedizin‹?«
    »Ja! Ich bin im hinteren Teil des Gebäudes, gleich hinter der Laderampe. Wir sind in der Albany Street, direkt gegenüber der Klinik!«
    »Ich schicke sofort einen Rettungswagen.«
    Maura legte auf. Erneut musste sie das Ekelgefühl unterdrücken, als sie ihren Mund auf den der Frau presste. Noch drei schnelle Atemstöße, und wieder legte sie die Finger an die Halsschlagader.
    Ein Puls. Da war eindeutig ein Puls!
    Plötzlich hörte sie ein Pfeifen, ein Husten. Die Frau atmete jetzt selbstständig, und ein rasselndes Geräusch drang aus ihrer verschleimten Kehle.
    Bleib jetzt dran. Atmen, Lady. Atmen!
    Lautes Geheul kündigte das Nahen des Rettungswagens an. Maura öffnete die Schiebetüren und blinzelte im grellen Schein des Blaulichts, als der Wagen rückwärts an die Laderampe heranfuhr. Zwei Sanitäter sprangen heraus, die Instrumentenkoffer in der Hand.
    »Sie ist hier drin!«, rief Maura.
    »Immer noch Atemstillstand?«
    »Nein, sie atmet inzwischen. Und ich kann einen Puls fühlen.«
    Die beiden Männer trabten in das Gebäude und blieben mit großen Augen vor der Frau auf der Rollbahre stehen.
    »Mein Gott«, murmelte der eine. »Ist das da ein
Leichensack?
«
    »Ich habe sie im Kühlraum gefunden«, erklärte Maura. »Inzwischen dürfte sie ernsthaft unterkühlt sein.«.
    »O Mann. Wenn das nicht die Mutter aller Albträume ist.«
    Sofort wurden Sauerstoffmaske und Infusionskatheter ausgepackt, EKG-Elektroden angeschlossen. Der Monitor zeigte einen langsamen Sinusrhythmus an, wie von einem etwas trägen Karikaturisten gezeichnet. Das Herz der Frau schlug, sie atmete, aber sie sah immer noch aus wie eine Leiche.
    »Was ist mit ihr passiert?«, fragte einer der Sanitäter, während er einen Stauschlauch um den schlaffen Arm der Frau legte. »Wie ist sie hier reingeraten?«
    »Ich weiß absolut nichts über sie«, antwortete Maura.
    »Ich bin hinuntergegangen, um etwas bei einer anderen Leiche im Kühlraum nachzusehen, und da hörte ich, wie diese hier sich bewegte.«
    »Kommt so was hier … öfter vor?«
    »Es ist das erste Mal für mich.« Und sie hoffte bei Gott, dass es auch das letzte Mal war.
    »Wie lange hat sie in Ihrem Kühlraum gelegen?«
    Maura warf einen Blick auf das Klemmbrett an der Wand, wo die Einlieferungen des Tages vermerkt wurden, und sah, dass die unbekannte Tote gegen Mittag in der Rechtsmedizin eingetroffen war.
Vor acht Stunden. Acht Stunden eingeschlossen in einem Leichensack. Wenn sie nun auf meinem Seziertisch gelandet wäre! Wenn ich ihr den Brustkorb aufgeschnitten hätte!
Nach kurzer Suche im Korb mit dem Posteingang fand sie den Umschlag mit den Papieren, die zu der Frau gehörten. »Die Feuerwehr Weymouth hat sie eingeliefert«, sagte sie. »Es sah alles nach Tod durch Ertrinken aus …«
    »He, ganz ruhig!« Der Sanitäter hatte gerade eine Infusionsnadel in die Vene gestochen, worauf die Patientin unvermittelt zum Leben erwacht war und sich in wilden Zuckungen wand. Die Einstichstelle schwoll an und färbte sich wie durch Zauberhand blau, als das Blut aus der Vene sich unter der Haut sammelte.
    »Mist, ich hab die Stelle verloren! Hilf mir mal, sie festzuhalten!«
    »Mensch, das Mädchen steht gleich auf und spaziert uns davon!«
    »Sie wehrt sich mit aller Kraft. Ich krieg den Zugang nicht gelegt.«
    »Dann legen wir sie einfach auf eine Trage und nehmen sie mit.«
    »Wohin bringen Sie sie?«, fragte Maura.
    »Nur über die Straße, in die Notaufnahme. Wenn Sie irgendwelche Papiere haben – die werden eine Kopie haben wollen.«
    Sie nickte. »Wir sehen uns dann dort.«
    Eine lange Schlange von Patienten wartete an der Anmeldung der Notaufnahme, und die Aufnahmeschwester hinter der Scheibe reagierte einfach nicht auf Mauras Versuche, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bei einem solchen Andrang wie heute Abend musste man schon mindestens ein paar abgetrennte Gliedmaßen oder heftig blutende Wunden vorweisen können, wenn man vorgelassen werden

Weitere Kostenlose Bücher