Schenk mir deinen Atem, Engel ...
Seele.
Die Seele, die die Menschen eines Tages zurück ins Licht führen würde. So sagte es zumindest die Prophezeiung.
Im Grunde war es Jake gar nicht recht, dass er sich in diese Sache hatte reinziehen lassen. Ihm war keineswegs daran gelegen, einen Menschen vor irgendetwas zu bewahren. Menschen! Er verzog das Gesicht. Diese jämmerlichen Kreaturen bedeuteten ihm nichts. Jeden Tag traten sie aufs Neue den Beweis an, dass sie die Gnade des Herrn nicht verdienten. Sie logen, betrogen, führten Kriege, mordeten … Er hatte es zu oft mit angesehen, um etwas anderes als Abscheu für diese Wesen zu empfinden, die sich selbst für die Krone der Schöpfung hielten.
Ja, es hatte eine Zeit gegeben, als er die Menschen beschützte. Das war seine Aufgabe gewesen – die eines Schutzengels. Doch mit jedem Schützling, den er bei irgendeinem sinnlosen Scharmützel, bei einem Anschlag oder durch die Hand eines anderen Menschen verlor, hatte sein Eifer nachgelassen. Er entwickelte eine Antipathie gegen die Menschheit, was dazu führte, dass er seiner Aufgabe nur noch sehr nachlässig nachgekommen war.
Die Strafe für sein Verhalten folgte spät, aber sie kam und dauerte nun bereits mehrere Hundert Jahre an: So lange schon lebte er als gefallener Engel unter den Kreaturen, für die er so wenig übrig hatte – den Menschen. Aus dem Himmelreich verstoßen und verbannt.
Er spürte, wie der Hass in ihm aufstieg; der Hass, der ihn nun schon seit so langer Zeit jeden Tag aufs Neue quälte, ihm den Verstand raubte. Ja, er hasste nicht nur die Menschen, sondern auch all die selbstgerechten Seraphim und Cherubim, die über ihn gerichtet hatten und die Verantwortung für sein Schicksal trugen.
Doch nun hatten sie ihm – für ihn völlig überraschend und unvorbereitet – eine neue Chance gegeben: Sollte es ihm gelingen, die reine Seele vor den Kreaturen der Finsternis zu schützen, die die Rettung der Menschheit um jeden Preis verhindern wollten, durfte er ins Elysium zurückkehren. Dorthin, wo er seiner Meinung nach immer hingehört hatte.
Er hatte die Aufgabe angenommen – und die reine Seele soeben gefunden.
Er hatte es schon am Vormittag gespürt, als diese Leute, diese Moninghams, in das Haus eingezogen waren. Er hatte etwas gespürt, jedoch ohne genau zu wissen, was. Nun wusste er, dass er sie gespürt hatte.
Die Anwesenheit der reinen Seele.
Das Mädchen auf der Veranda …
Und nun würde ihn nichts und niemand davon abhalten können, seine Aufgabe zu erfüllen. Er würde dieses Mädchen beschützen und schon bald, sehr bald, ins Elysium zurückkehren …
2. KAPITEL
Am nächsten Morgen wurde Faith von den ersten Sonnenstrahlen geweckt, die durchs Fenster fielen. Sie schlug die Augen auf, blinzelte ein paarmal und atmete tief durch. Obwohl sie in der vergangenen Nacht gar nicht so viel geschlafen hatte, fühlte sie sich erholt wie lange nicht mehr. Woran das wohl lag? Vielleicht an der guten Seeluft? Soweit sie sich erinnerte, hatte sie in der Nacht auch gar nicht richtig husten müssen. Wahrscheinlich war die Luft hier wirklich eine Wohltat für ihre kranken Lungen.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und setzte sich auf. Während sie einen Moment lang sitzen blieb und sich streckte, fiel ihr Blick auf ihren Bruder, der noch tief und fest schlief. Weder Sonnenstrahlen noch irgendwelcher Lärm waren imstande, ihm den Schlaf zu rauben. Wahrscheinlich hatten Faiths regelmäßige nächtliche Hustenattacken ihn diesbezüglich ohnehin von Anfang an ziemlich abgehärtet. Sie verzichtete darauf, einen Versuch zu unternehmen, ihn zu wecken. Das sollte Mom später machen, sonst gab es bloß wieder Ärger.
Faith stand auf und ging ins Badezimmer, das sich am anderen Ende des Flures befand. Als Erstes blickte sie in den Spiegel. Täuschte sie sich, oder sah sie nicht mehr ganz so blass aus wie sonst? Wahrscheinlich redete sie sich das nur schön; nach einem Tag konnte die Seeluft schließlich noch keine Wirkung zeigen.
Der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee erfüllte die Luft, als sie knapp eine Viertelstunde später die Küche betrat.
„Möchtest du lieber Rührei oder Spiegelei zum Frühstück, Liebes?“, fragte ihre Mutter, die am Herd stand, ohne sich umzublicken.
„Rührei“, antwortete Faith. „Mit Speck und Zwiebeln, wenn du hast.“
Ihr Vater, der bereits am Esstisch saß, ließ die Zeitung sinken, in der er bis gerade gelesen hatte. „Wo steckt dein Bruder? Noch im Bad?“
Faith lachte leise. „Von
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