Schenk mir nur eine Nacht
können Sie etwas essen und trinken. Ich setze mich jetzt selbst ans Steuer, damit Luis sich ausruhen kann."
Shontelle runzelte die Stirn. Hatte Luis sich verletzt? Wenn ja, dann merkte man ihm jedenfalls nichts an.
"Wie war's, wenn er Applaus dafür bekäme, dass er uns heil bis hierher gebracht hat?" regte Alan an und fing an zu klatschen.
Sogleich setzte begeisterter Beifall ein. Luis drehte sich um und bedankte sich mit einem höflichen Lächeln und einer freundlichen Handbewegung. Dann legte Alan das Mikrofon beiseite und setzte sich auf den Fahrersitz. Nachdem die beiden Männer sich noch einmal kurz unterhalten hatten, startete Alan den Motor und fuhr los. Zu ihrer Erleichterung stellte Shontelle fest, dass der Bus die Spur hielt. Demnach war die Reparatur des linken Hinterrads erfolgreich gelungen.
Ohne zu zögern, setzte Luis sich auf den freien Platz neben ihr. Damit hatte sie nicht gerechnet, und plötzlich waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Beinah wäre sie weiter ans Fenster gerückt aus lauter Angst, er würde sie berühren. Das ist ja lächerlich, was kann er mir im Beisein all dieser Leute schon tun? wies sie sich sogleich zurecht.
"Bist du verletzt?" fragte sie schroff und brachte es nicht über sich, ihn anzusehen.
"Nein."
"Warum fährst du dann nicht selbst?"
"Weil ich mit dir reden will."
Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde sich
zusammenkrampfen. "Ist Alan damit einverstanden?"
"Ja."
Zwei Stunden, dachte sie und betrachtete ihren Bruder vor sich auf dem Fahrersitz. Hörte er jetzt zu? Nein, wahrscheinlich nicht, er musste sich auf wichtigere Dinge konzentrieren.
Außerdem machte der Motor so viel Lärm, dass Alan sowieso kein Wort davon verstand, was hinter ihm leise gesprochen wurde. Und die anderen Fahrgäste konnten auch nichts hören.
Der Zeitpunkt für eine private Unterhaltung war deshalb durchaus günstig.
Shontelle machte sich selbst Mut, ehe sie sich langsam zu dem Mann, der sie so sehr gequält hatte, umdrehte. "Was willst du wissen?" fragte sie.
In seinen dunklen Augen blitzte es so entschlossen auf, dass sie erbebte. "Erzähl mir von der Begegnung mit meiner Mutter", forderte er sie auf. "" Sie wandte den Blick wieder ab. Es irritierte sie, dass er so viel geballte Energie ausstrahlte. "Warum müssen wir die Vergangenheit heraufbeschwören?"
"Soweit es mich betrifft, reicht die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. Und ich werde mich damit auseinander setzen, darauf kannst du dich verlassen", erklärte er fest.
Shontelle schüttelte den Kopf. Sie wollte den Schmerz, den sie bei Elvira Martinez' Enthüllungen empfunden hatte, nicht noch einmal durchleben. "Du hast mich vor zwei Jahren belogen, Luis", warf sie ihm verbittert vor.
"Nein, das habe ich nicht", widersprach er ihr sogleich vehement.
Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich mich getäuscht hätte und alles ganz anders war, als seine Mutter behauptet hat, dachte sie gequält und schloss die Augen.
"Erzähl mir bis ins kleinste Detail, wie die Begegnung mit meiner Mutter verlaufen ist, Shontelle", forderte er sie noch einmal auf.
Wenn er darauf bestand, dann musste es eben sein. Ich will ja selbst die Wahrheit wissen, auch wenn sie noch so schmerzlich ist, überlegte Shontelle. Dann rief sie sich den Tag ins Gedächtnis zurück, als Elvira Rosa Martinez ihr das Herz gebrochen und ihr Leben von einer Sekunde auf die andere völlig verändert hatte.
10. KAPITEL
Obwohl Shontelle versucht hatte, die Begegnung mit Elvira Rosa Martinez aus ihrem Gedächtnis zu streichen, sah sie jetzt plötzlich alles wieder so deutlich vor sich, als wäre es erst gestern gewesen.
"Du hast, einen Tag bevor du mich verlassen hast, mit ihr geredet oder sie mit dir", sagte er ungeduldig.
"Ja. Aber es hat eigentlich schon viel früher angefangen", erwiderte sie langsam. Sie dachte an die Zeit, die sie mit ihm in seinem Apartment im Barrio Recoleta verbracht hatte. Es war eine der schönsten und exklusivsten Wohngegenden in Buenos Aires, und Shontelle hatte sich dort sehr wohl gefühlt. Sie war jedoch nicht glücklich darüber gewesen, dass Luis sie nie seiner Familie vorgestellt hatte, die in dem eleganten herrschaftlichen Haus der Martinez ganz in der Nähe wohnte.
"Hatte meine Mutter etwa schon früher Kontakt mit dir aufgenommen?" fragte er leicht ungehalten.
"Nein. Mir war nur aufgefallen, dass ich weder deine Familie noch deine Freunde kennen lernen durfte." Sie sah ihn prüfend an. "Warum hast du mich von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher