Schenkel, Andrea M
Schwein!
Mit dem Küchenmesser stochere ich im Türspalt, heble damit, bis es bricht. Ich Idiot, das hätte ich noch als Waffe gebrauchen können.
Es ist still im Zimmer, ich höre nur die Fliege, wie sie am unteren Fensterrand hin und her brummt. Von Zeit zu Zeit schlägt sie dumpf gegen das Glas, läuft auf der Scheibe herum.
Ich gehe hinüber zum Fenster, rüttle daran, es lässt sich auch nicht öffnen. Wolken ziehen langsam vorüber. Ich stelle mich auf den Stuhl, es sind gerade die obersten Baumwipfel des Nadelwalds zu sehen. Ich könnte die Scheibe einschlagen, lasse den Gedanken jedoch gleich wieder fallen. Das Fenster ist zu schmal, da ist kein Durchkommen.
Ich durchsuche nochmals das Zimmer. Es ist sinnlos, aber es muss doch irgendwas zum Aufbrechen der Tür zu finden sein. In der Kommode hab ich noch nicht nachgeschaut. Teebeutel, Kehrschaufel und ein uralter Handbesen, Zeitungen, ein kleiner Fotorahmen. Ich habe zu Hause auch so einen aus schwarz lackiertem Holz, ganz genau den gleichen. Neugierig greife ich nach dem Rahmen. Nehme ihn heraus, drehe ihn um.
Und starre fassungslos auf das Bild. Das ist unmöglich, es ist ein Foto von mir als Schülerin. Neben mir sitzt Joachim. Joachim mit seinem runden Kindergesichtchen grinst mich an! Ich will es nicht sehen, schmeiße den Rahmen wieder zurück in die Kommode. Wie kommt das Bild hierher? Es stand in meinem Bücherregal, in der obersten Reihe, ganz in der Ecke war der Rahmen zwischen Wand und Büchern eingeklemmt. So fest, dass man ihn kaum herausziehen konnte. Ich kann mich nicht erinnern, dass er verschwunden war. Gut, dort stehen alle meine alten Bücher. Alles, was ich aus irgendeinem sentimentalen Grund nicht wegwerfen mag. Ich hätte dieses Zeug schon längst auf den Müll schmeißen müssen.
Zögernd hole ich das Bild wieder aus der Kommode heraus, wie versteinert starre ich auf das Foto. Stehe da, halte es mit beiden Händen. Ewig starre ich es an. Draußen wird es bereits dunkel. Ich schaue das Bild an, bis die Gesichter darauf verschwimmen, ich fast nichts mehr erkennen kann. »Er kommt nicht zurück!« Ich fahre zusammen, erschrecke beim Klang meiner eigenen Stimme. »Er kommt nicht zurück!«, sage ich noch einmal halblaut zu mir selbst. Und weiß nicht, wen von beiden ich damit meine, Joachim oder meinen Entführer. Durch den halbdunklen Raum gehe ich hinüber zum Bett.
Auf dem Bett liegend, nicke ich immer wieder ein. Fahre erschreckt hoch, um dann doch wieder einzuschlafen. Ich will nicht schlafen, ich will wach bleiben, habe Angst vor meinen Träumen.
Und wieder werde ich aufgesogen von einer schwarzen Leere, werde hineingezogen in das Nichts. Weit weg sehe ich ein Licht, wie am Ende eines Tunnels. Ich laufe dem Licht entgegen. Das Licht wird größer, heller, es verdrängt das Dunkel. Ich bin in einem Raum, ich kenne ihn. Ich weiß, ich träume wieder den gleichen Traum. Wieder und immer wieder. Und auch diesmal drehe ich mich um mich selbst und sehe mir doch im gleichen Augenblick dabei zu. Und plötzlich steht wieder der kleine Junge vor mir. Ich gehe auf ihn zu. In mir ist ein Gefühl der Wärme, ich möchte ihn umarmen, ihn beschützen. Der Junge sieht mich an. Es ist Joachim. Ich blicke hoch und sehe in einen Spiegel. Ich sehe Joachim und daneben, gut einen Kopf größer als er, stehe ich. Als Dreizehnjährige mit langen dunkelblonden Zöpfen. Joachim blickt zu mir hoch, plappert vor sich hin. Er redet viel zu schnell. Ich verstehe ihn nicht. Es ergibt keinen Sinn. Nur langsam fange ich an, ihn zu verstehen.
»Sparschwein.« Er hält das Schwein in der Hand und zeigt es mir. Ich will danach greifen, doch er holt aus und wirft es in den Spiegel. Unser Spiegelbild zerbirst in tausend Scherben. Alles ist übersät, der ganze Boden voll glitzernder Glasscherben. Zwischen den Scherben Münzen, Pfennige, Zehnpfennigstücke. Ich packe ihn, drücke ihn mit aller Gewalt zu Boden. Joachim liegt in den glitzernden Scherben, das Licht bricht sich in ihnen tausendfach. Die Beine blutig, er weint. Ich sehe in sein Gesicht, nass von Tränen, Rotz läuft aus seiner Nase. »Du kleines Miststück!« Ich spüre die Wut in mir, spüre diese furchtbare Wut in mir. Ich beginne auf ihn einzuschlagen, ihn zu treten. Ich höre nicht mehr auf. Er blutet, ich schlage weiter, schlage, schlage … bis sein kleiner Körper reglos am Boden liegt. Blut sickert langsam als dünner Faden aus dem Ohr. Ich strecke die Hand aus, berühre das rote Rinnsal. Sehe
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