Schenkel, Andrea M
es auf meiner Fingerkuppe glänzen. Ich beuge mich hinab, küsse und liebkose ihn. Und noch im gleichen Augenblick möchte ich, dass er verschwindet. Er muss weg! Ich hole die Schubkarre, versuche den Körper auf die Karre zu hieven. Es geht nicht, er fällt auf der anderen Seite herunter, immer wieder. Ich packe ihn an seinen Beinen, sehe seine Schuhe. Kinderschuhe. Blaue Stoffschuhe, mit blau-weiß gestreiften Schnürsenkeln. Joachims Lieblingsschuhe.
»Hallo, Monika, was machst du mit mir?« Ich stutze, drehe mich um. Ich stehe in einem Park. Joachim steht neben mir an eine Weide gelehnt, Joachim, der eben noch wie tot auf dem Boden lag. Er hält eine Hand an sein Ohr und grinst.
Ich sitze auf einer der alten Holzkisten. Mein Jagdmesser in der einen, ein Stück Holz in der anderen Hand. Von oben höre ich von Zeit zu Zeit Schritte. Sie geht auf und ab. Ich sehe hoch zur Decke. Meine Augen folgen der Unsichtbaren. An manchen Stellen rieselt Staub durch die Ritzen zwischen den Holzbalken. Ich sehe den Staubpartikeln zu, wie sie langsam zu Boden schweben.
Hier unten sitze ich am liebsten. Zwischen all den alten verstaubten Kisten und Maschinen. Mein Lieblingsplatz. Es war schon immer mein Lieblingsspielplatz hier in Vaters Mühle. In das alte Gebläse konnte ich hineinkriechen. Ich passte genau durch die offene Lüftungstür. Innen standen Kerzen, kleine Teelichter. Vater sah das nicht gern, er hatte Angst, ich würde ihm die ganze Mühle abfackeln. Ich war der Lokomotivführer, draußen war es dunkel, Nachtfahrt. Im Licht der Kerzen fand ich all die Instrumente, Druckmesser für den Heizkessel, Ölstandsanzeiger, Geschwindigkeitsmesser, Temperaturanzeiger.
In jeder der Kisten lagen Schätze. Ich kannte ihren Inhalt, jeden Gegenstand. Ich hatte Waffen, viele Waffen. Vor allem Schwerter, Messer, Gewehre und Pistolen. Die brauchte ich auch. Ich musste meine Mühle verteidigen. Gegen Piraten, Diebe. Gegner lauerten überall. Vor allem unten im Bunker. Dort durfte ich nicht hin. Vater hatte es mir verboten. Unter Strafe hatte er es mir verboten. Und doch habe ich immer wieder heimlich unter die Holztür gelugt, die glitschige Treppe gesehen. Das Licht meiner Kerzen reichte nicht aus, ich konnte die Tür zum Bunker nur erahnen. Aber ich wusste, dort sind sie, meine Feinde. Gezeigt haben sie sich nie, haben sich immer gut versteckt, doch ich war bereit.
Ich sitze auf der großen Holzkiste und schaue nach oben. Sie geht auf und ab. Wie Mutter geht sie auf und ab. Vater hatte sie immer wieder eingesperrt. Alle paar Wochen war sie dort oben. Was sie getan hatte, wusste ich nicht. Ich traute mich auch nicht zu fragen. Vater war bestimmt im Recht. Vater hatte immer Recht. Ab und zu hörte ich Vater und Mutter streiten. Sie schrien sich an. Ich habe mir dann immer die Ohren zugehalten und laut gesungen, um es nicht hören zu müssen. Vielleicht war es Mutter sogar recht, dass er sie oben einsperrte, so konnte er sie wenigstens nicht mehr schlagen.
Wenn Mutter oben eingesperrt war, konnte ich toll spielen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht. Vater war dann immer fort. Kam erst nach Tagen betrunken zurück. Manchmal rief Mutter nach Vater. »Schließ bitte auf! Bitte schließ auf!« Manchmal rief sie auch nach mir. Ich war dann immer ganz leise, tat so, als ob ich nicht da wäre. Bin in das Gebläse gekrochen und habe Lokomotivführer gespielt. Ich wollte sie nicht hören, konnte ihr nicht helfen. Vater war im Recht. Er war immer im Recht.
Seit einiger Zeit höre ich keine Schritte mehr. Es ist still. Ich schleiche mich vorsichtig die Treppe hinauf. Entriegele das Schloss. Öffne die Falltür. Sie liegt auf dem Bett, ganz ruhig. Die Augen geschlossen. Sie atmet schwer, schläft tief. Ich gehe zum Bett. Sie liegt da, hält das Bild in den Händen. Ich will das nicht, will nicht, dass sie das Bild hat. Ich nehme es ihr weg. Ziehe es ganz vorsichtig aus ihren Händen. Sie merkt es nicht, schläft weiter.
Ich nehme die Bettdecke und decke sie zu. Sie soll nicht frieren.
Ich habe schlecht geschlafen, Albträume. Es ist dunkel im Zimmer, nur der Mond scheint ein wenig herein. Aber so kommt wenigstens etwas Licht in den Raum. Ich kann gerade die Umrisse der Möbel erkennen. Gestern waren hier noch Petroleumlampen. Wo ist das Bild? Ich hatte es doch in meinen Händen, als ich einschlief. Ich weiß das genau, ich bin doch nicht blöd! Wie gestern hat er mich zugedeckt. Unheimlich. Mich fröstelt trotz der Decke. Niemand außer mir
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