Schenkel, Andrea M
sie nicht richtig erkennen. Eine Frau. Das Gesicht unter ihren Händen verborgen, den Kopf auf die Knie gestützt. Ich entferne mich weiter, sehe das kaputte Mühlendach, den Wald, alles wird dunkel und still.
Ein Knall. Ich reiße meine Augen auf. Schwarzer Brei quillt unter die Lider. Ich presse sie wieder zusammen. Über mir Blubbern, Rumoren. Auf mich, durch die zähe, gallertartige Masse, in der ich gefangen bin, sinken feste Brocken. Gestein und Erde? Ich möchte meinen Mund öffnen, schreien, atmen! Mein Verlangen danach wird immer größer. Ich möchte atmen, Luft! Halt durch! Mach’s nicht! Es ist wie im Schwimmbad, wer als erster auftaucht, hat verloren!
Wieder ein Krachen, dumpf und laut. Ich wirble herum, drehe mich, werde gedreht, der linke Arm verhakt sich irgendwo, reißt sich wieder los. Ich rolle, werde gestoßen, bleibe liegen.
Ich atme. Langsam und tief atme ich ein und aus.
Ich lebe! Ich bin noch am Leben. Ich öffne die Augen. Ich blinzle. In der gegenüberliegenden Wand ein großes Loch, grelles Licht. Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich mich um. Geröll, Schlamm, Matsch. Meine linke Schulter tut mir weh. Sonst geht es mir gut, ich bewege Hände und Füße, alles da und beweglich.
Ich stehe auf, Schutt und Geröll überall. Durch die zusammengekniffenen Augen sieht es aus, als ob das Licht in Strahlen durch das Loch in der Wand hereinfällt. Ein angenehmes warmes Gefühl durchflutet mich, ich bin glücklich. Glücklich, noch am Leben zu sein.
Ich laufe auf das Loch zu, rutsche auf glitschigen Steinen aus, schlurfe durch schlammiges Wasser und steige über den Rest der Mauer hinaus ins Freie.
Über mir Wolkenschlieren in einem blaugrauen Himmel. Ein riesiger Krater neben der Mühle. Ich klettere die flach abfallende Seitenwand hoch. Gehe um die Scheune herum, die Eisentür zur Mühle ist geschlossen.
Ich gehe hinüber, stemme mich mit aller Kraft gegen die Tür. Öffne sie. Sie sitzt auf dem Boden in der hinteren Hälfte des Raumes. Der Raum ist dunkel, die Petroleumlampen müssen schon lange ausgegangen sein. Sie blickt hoch, sieht mich fassungslos an. Sitzt da, ohne sich zu bewegen, starrt mich nur an. Das Messer liegt auf einem der Bretter im Regal gleich neben der Tür: Ich greife blind danach, ohne hinzusehen. Sie steht langsam auf, lässt mich nicht aus den Augen. Ich gehe auf sie zu. Ganz nah vor ihr bleibe ich stehen. Sie sieht mich an. Ich kann ihren Atem in meinem Gesicht spüren. Sie hätte mich im Bunker verrecken lassen, wie eine dreckige, verlauste Ratte. Ich greife mit der Linken ihren Nacken, spüre ihr Haar in meiner Hand. Beuge mich ein klein wenig zu ihr hinab, während ich mit der Rechten zustoße. Sie sieht mir die ganze Zeit in die Augen.
Einsatzwagen der Feuerwehr und der Polizei, laufende Motoren, Lärm. Der Eingang zur Mühle mit starkem Scheinwerferlicht hell ausgeleuchtet.
Grelles künstliches Licht auch im Innenraum. Am Boden eine verletzte, stark blutende Frau. Der Notarzt neben der Patientin auf dem Boden kniend, versorgt hektisch die Wunden. Versucht durch Auflegen von Wundkompressen und Druckverbänden die Blutung zum Stehen zu bringen.
Die Sanitäter stehen mit der Trage bereit.
»Die ist jetzt stabil. Ihr könnt sie mitnehmen. Keine Sorge, sieht schlimmer aus, als es ist. Die packt das.« Der Notarzt steht auf, überlässt die Frau den Sanitätern, diese heben sie vorsichtig auf die Trage.
Der Zugang zum Keller wurde von der Polizei mit rot-weißem Absperrband gesichert. Ein uniformierter Beamter steht neben der Absperrung, wartet auf seine Kollegen vom Erkennungsdienst. Im hintersten Raum des Kellers befindet sich in einem Plastiksack der Körper einer toten Person.
Auf folgende Quellen habe ich zurückgegriffen:
– Dr. Wolfgang Kolbinger, Ablaufbeschreibung Bauchstichverletzung.
– Josef Stepan, Tagesablauf JVA.
Und mein besonderer Dank gilt meinem Mann, Dr. Ralph Schenkel, der mir stets mit Rat, Tat und viel Geduld zur Seite gestanden hat.
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