Scherben
unsere Hände unter Kissen und zwischen die Polster, nahmen Gläser und Nippes in die Hand und stellten alles wieder hin. Später zündeten wir eine Kerze an, setzten uns an den Tisch und hörten Großmutter zu. Ungläubig blicktenwir uns im Esszimmer um, das im flackernden Licht der Kerze unwirklich aussah.
Die Erwachsenen unterhielten sich.
Mutter sagte, der Cognac sei für den Fall gewesen, dass irgendein Tschetnik den Bus gewaltsam anhält, an Bord kommt und sich uns, ihren Kindern, nähert: Dann hätte sie einen Schluck direkt aus der Flasche genommen, um die lähmende Angst zu bekämpfen, wäre dem Arschloch an den Hals gesprungen und hätte ihm mit den Zähnen die Kehle rausgerissen.
Vater sagte, er habe unser Grundstück in Kovačevo Selo gesehen. Alles dort sei weg, geplündert: der Stacheldraht, die Himbeersträucher, die Treppe, das Dach, die Fenster, sämtliche Möbel, meine Comics, nur ein zerbrochener Pfannenheber habe im Gras gelegen, und er habe ein gerahmtes Filmplakat von American Ninja mit Michael Dudikoff oben im Birnbaum hängen sehen.
Großmutter sagte, sie habe dem Wellensittich Reis zu fressen gegeben, und er sei in seinem Käfig gestorben.
Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
Februar 1999
Ich liebe dich, mati , aber wenn ich dich besuche, werde ich nicht bleiben.
Melissa zieht mit ihren zwei besten Freundinnen nach San Diego, die beiden hassen mich. Kennst du das aus den Naturfilmen, wenn in der Antarktis riesige Eisbrocken abbrechen und in den Ozean stürzen? Genau so sieht es jetzt in mir aus.
Du wirst mich diesen Sommer sehen. Ich weiß nicht, ob ich mich freue oder nicht. Aber eins weiß ich. Ich werde nicht bleiben. Egal, was du machst, egal wie oft du versuchst dich umzubringen, ich werde nicht bleiben. Izzy muss Melissa nach San Diego folgen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Pillen und Alkohol funktionieren nicht mehr so gut wie früher, mati . Ich nehme eine Beruhigungstablette vor dem Schlafengehen und wache eine halbe Stunde später schweißgebadet wieder auf. Ich betrinke mich mit Wodka, schlafe kurz ein, und dann genau dasselbe. Wie wehrt man das Gedankengewimmel ab, das Geschnatter im Hirn?
Dementophobie heißt das, sagt Dr. Cyrus. Die Angst, den Verstand zu verlieren. Das Letzte, was Sie gebrauchen können, sagt er.
Und so passiert es: Ich denke, ich höre ein Murmeln. In meinem Kopf? Von unten? Ich stelle den Fernseher lautlos, lausche. Es ist noch da. Ich gehe auf den Balkon, und durch das Vogelgezwitscher und den Verkehrslärm höre ich es immer noch. Ein Mann flüstert eindringlich, wie durch einen Bart. Ich gehe wieder rein, stelle den Ton des Fernsehers wieder an, drehe ihn richtig laut. Das Murmeln ist immer noch da. Ich nehme einen Schluck Wodka direkt aus der Flasche. Es ist immer noch da, es ist immer noch da. Und wenn ich anfange panisch zu werden, sehe ich Leute: dich, Vater, Mehmed, Soldaten, und ich drifte ab in irgendeine Erinnerung, eine zufällige Begebenheit eines Lebens, das vielleicht meins ist, vielleicht aber auch nicht.
(… die nacht deiner rückkehr nach bosnien …)
Du wachst mitten in der Nacht auf. Es ist so ein Aufwachen, das dich fertigmacht: Der Alptraum ist noch so lebendig, dass er dir fast real erscheint, der Wachzustand noch zu verschwommen, um dir Sicherheit zu geben. Deine Schultern verkrampfen, als sei damit zu rechnen, dass jemand zuschlägt. Dafür gibt es keinen fundierten Grund, aber irgendwie spielt das keine Rolle. Das Gefühl entsetzlicher Dringlichkeit überschattet alles, und du wartest, dass die Wirklichkeit die Oberhand gewinnt. Dass alles wieder Sinn ergibt. Die Zeit schleppt sich voran.
Die Luft ist heiß. Der Schlafanzug klebt an dir. Deine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit, und deine Umgebung kommt dir bekannt vor: die Donald-Duck-Bettwäsche, dein Bruder schlafend auf dem anderen Sofa, der alte Teppichläufer, das unablässige Quietschen des Hamsterrads – du bist wieder zu Hause. Zu Hause?
Du durchforstest dein Gehirn und findest nichts als die Reste eines verblassenden Alptraums. Du kannst dich nicht erinnern, wie alt du bist. Das unergründliche Gefühl der Dringlichkeit in deiner Brust, es grenzt an Panik, und du hast keine Ahnung, woher es kommt. Das Hamsterrad hört auf zu quietschen, und deine Anspannung wächst. Die Stille ist erdrückend. Du wartest auf etwas, egal was. Was zum Teufel ist hier los? , denkst du.
WUMM!
Du bewegst dich nicht mal. Das Geräusch von zerbrochenem Glas, dann
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