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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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schießt dir durch den Kopf, dass wahrscheinlich erst drei oder vier Minuten vergangen sind, seitdem du aufgewacht bist, höchstens fünf.
    Dein Bruder schläft. Wow, denkst du.
    WUMM!
    Das war nah. Unter der Erde klingen die Einschläge bedrohlicher. Du kriechst ans Fußende des Bettes und guckst. Ein paar Hausbewohner fluchen. Andere beten. Ihre Gesichter sind angstverzerrt. Sie sehen aus wie Leute, die nicht sterben wollen. Nur die Familie auf der anderen Seite sticht mit ihrer Fröhlichkeit heraus, sie spielen Rommé. Du kriegst mit, dass der Vater die Runde gewinnt und lacht. Seine Frau meint, er habe Schwein gehabt. Er sagt: »Pech im Spiel, Glück in der Liebe.« Sie schubst ihn scherzhaft. Er zieht eine Zigarette aus der Tasche und leckt sie ab. Dadurch brennt sie langsamer. Er zündet sie an, nimmt einen tiefen Zug und bläst den Rauch an die Wand. Du kapierst, dass sie um Züge von der Zigarette spielen. Hinter ihnen hat jemand einen riesigen grünen Phallus an die Wand gesprüht. Der Familie scheint das gar ni
    WUMM!
    Du erinnerst dich an die vierundzwanzigstündige Busfahrt gestern. Du erinnerst dich an die Kontrollpunkte mit Wachen in mindestens drei verschiedenen Uniformen. An Landminen am Straßenrand. Du erinnerst dich, dass dein Vater gesagt hat, dass man für die Einreise keine Papiere braucht. Nur wenn man Bosnien verlassen möchte, wollen sie Dokumente sehen. Du erinnerst dich an das unrasierte Gesicht eines jungen Ma
    WUMM!
    Du fragst dich, ob für einen Fünfzehnjährigen Krieg so ist: in der nervenaufreibenden Sicherheit eines Luftschutzraums sitzen und den Einschlägen der Granaten über der Erde lauschen. Du kannst dir nichts Schrecklicheres vorstellen. Im Fernsehen sind Kriege wenigstens noch aufregend, erinnerst du dich. In der Wirklichkeit, in der Sicherheit des Betonmausoleums, starrst du die Pflaumenhälften auf dem schmutzigen Fußboden an. Nichts. Doch dein Herz rast, als würdest du einen Marathon laufen.
    Deine Mutter schläft jetzt. Die Tablette wirkt. Dein Vater redet immer noch mit irgendwelchen Leuten fünf oder sechs Betten weiter. In Kroatien hast du dir noch vorgestellt, von Detonationen durch Räume geschleudert zu werden. Du hast dir einstürzende Mauern und Querschläger und den ganzen Fernsehquatsch vorgestellt. Wenigstens würdest du dann wissen, warum dein Herz so hämmert. Die Pflaumenhälften glotzen dich vom Fußboden an wie zwei feuchte Augen. Du legst dich hin und versuchst zu schlafen.
    WUMM!
    WUMM!
    WUMM!
    Du setzt dich wieder auf. Du starrst die Familie an, die Rommé spielt. Die Mutter hat ein schlechtes Blatt. Don’t fuck with Chuck döst. Seine Schwester guckt ihm in die Karten.Irgendwo wacht ein Baby auf und tut, was Babys am besten können, sehr laut. Nach einer Weile betest du für eine weitere Explosion, nur um die Monotonie des Geschreis zu durchbrechen.
    WUMM!
    Danke , denkst du. Der Vater gewinnt noch eine Runde, und du betrachtest ihn, wie er den Rauch inhaliert und die schrumpfende Zigarette wieder ausmacht, so glücklich.
    Du wirst auf eine Bewegung auf der anderen Seite des Raums aufmerksam. Eine Frau. Sie sitzt auf einem Brett und schaukelt wie in Trance vor und zurück. Sie trägt einen Rock, aber es macht ihr nichts aus, dass ihr alle drunter gucken können. Du kannst gar nicht anders, als auf ihre weiße Unterhose zu starren. Schminke läuft ihr in Strömen übers Gesicht. Das Baby schreit immer noch. Du starrst ihren Schlüpfer an. Dein Kopf will schlafen, aber du kannst nicht.
    WUMM!
    Deine Gedanken spielen dir Streiche. Du stellst dir vor, dass die Frau aufsteht und auf dich zeigt. Die verlaufene Wimperntusche macht aus ihrem Gesicht einen Rohrschachtest. Sie sieht aus wie einer von Kiss. In deiner Vorstellung schreit sie: VERRÄTER! Alle sehen dich an. Alle verurteilen dich. Alle wissen, dass du nicht von Anfang an da warst. Einige von ihnen trauern um Verwandte.
    Du schließt die Augen ganz fest. Du schüttelst deinen Kopf, um die bedrückenden Gedanken loszuwerden. VERRÄTER! , schreit die Frau. Dieses Mal weißt du nicht, ob du es dir vorgestellt hast oder ob es wirklich passiert ist. Du springst auf. Die Leute sehen dich an. Die Frau schaukelt weiter, putzt sich die Nase. Sekunden verstreichen, und die Menschen kümmern sich wieder um ihre eigenen Angelegenheiten. Du weißt nicht, ob sie dich angesehen haben, weil du aufgesprungen bist oder weil die Frau wirklich geschrien hat.
    Das ist nicht möglich , denkst du. Du kommst zu dem

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