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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Lächeln kehrte zurück.
    »Ach so – ein Kaugummi! Klar, gerne.«
    Ich sah sie verstört hat. Sie unterdrückte ein Lachen, zog den Streifen zwischen meinen Lippen hervor, wickelte dasKaugummi aus und steckte es sich in den Mund. Ihre Wangen glühten.
    Dann begriff ich, was ich sie gefragt hatte, und ein entsetztes »Oh« entfuhr mir, noch bevor ich die Chance hatte, es runterzuschlucken. Was ich sie gefragt hatte, hieß so was wie: Willst du Gesicht lutschen? »Kaugummi« war ein vulgärer umgangssprachlicher Ausdruck für Zungenkuss. Der vulgärste überhaupt.
    »Du hast doch nicht gedacht …«
    Aber da lachten wir schon, als würden wir uns schon immer kennen. Unser erstes Date dauerte noch keine Minute, und schon hatten wir eine kleine Geschichte zu erzählen.

    Augenblicke vergehen und sterben, und ihre Kadaver werden in Behälter mit Formaldehyd getaucht, in denen sie treiben, die Augen geschlossen, die kleinen Finger perfekt gekrümmt, als wären sie lebendig, als würden sie sich an etwas festhalten – wie der eingelegte Fötus aus dem Biologieunterricht. Sie werden zu Erinnerungen, verloschene Augenblicke, mariniert in Hirnchemikalien, um die Tatsache zu konservieren, dass sie sich einst ereignet haben und lebendig waren, so wie die gegenwärtigen Augenblicke lebendig sind, die ich dafür verschwende, diese Worte zu schreiben, an die Wand des Wohnzimmers meiner Eltern gelehnt, an einem entsetzlich heißen Tag im September 1999.
    Mutter hat gesagt, sie wolle heute nicht sprechen, sie habe es satt, über meinen Vater zu sprechen, über das, was er getan hat, dass Reden sinnlos sei und sie schon alles gesagt habe. Scheiß auf seine Mutter, sagte sie und entschuldigte sich anschließend auf Arabisch bei Gott. Ihre Lippen bebten. Sie sagte, sie wolle beten, und ich solle die Schlafzimmertür hinter mir zuziehen und mir ein bisschen Zeit für mich nehmen, sie spüre meine Er schöpfung, und ich brauche Zeit zum Schreiben. Ich weiß, das ist alles Blödsinn. Ich weiß, dass sie niedergeschlagen ist, aber ich schließe die Tür.
    Bin ich ein Arschloch? Was bin ich für ein Sohn?
    Gestern habe ich einen Riesenhaufen von diesen kleinen Schnapsfläschchen gekauft. Ich ziehe den Reißverschluss meiner Reisetasche so langsam wie möglich auf, damit sie mich nebenan nicht hört, und nehme zwei Fläschchen Wodka und zwei Sliwowitz raus. Ich kippe jeweils ein Fläschchen und stopfe die leeren wieder in meinen Rucksack. Die anderen zwei stecke ich ein. Asja, Asja, Asja, denke ich.
    First Base : gleich beim ersten Date unter einer Straßenlaterne in Batva, nachdem ich wenige Minuten zuvor am Eingang des Tušanj-Fußballstadions aufgrund von Unerfahrenheit noch gescheitert war. Euphorisch nach Hause gelaufen, als hätte ich im Alleingang ein Land befreit.

    Mutter schluchzt im Schlafzimmer. Ich öffne die Tür und gehe zu ihr . Er hat sich nie für mich eingesetzt, sagt sie . Seine eigenen Cousins haben mir bei Familientreffen unter dem Tisch an die Knie gegrabscht. In der Küche hab ich’s ihm erzählt, und er hat nie was gesagt. Er hat immer nur ins Leere gestarrt. Gewartet, dass ich endlich still bin. Ich nehme ihre Hand, und sie drückt meine fest. Sie weint leise vor sich hin, dann beruhigt sie sich . Mach dir keine Sorgen, sagt sie , so ist es immer. Ich muss es einfach loswerden. Geh wieder an deine Arbeit. Ich gehe zurück und lasse die Tür offen, setze mich auf die Couch. Ich sehe nur ihr schmales Handgelenk, als sie die Tür schließt. Ich greife in meine Hosentasche. Dann nach dem Rucksack, in dem ich die leeren Flaschen sammele.
    Second Base – nicht so richtig. Einmal, beim Knutschen auf einer Bank im Banja Park, fuhr ich schüchtern mit der Hand über Asjas bekleidete rechte Brust. Ein anderes Mal stieß ich sie scherzhaft von mir und hatte plötzlich eine Brust in der Hand. Ließ sofort los wie Jackie Chan in einem seiner Filme.

    Ich kann sie wieder hören, sie läuft herum. Ich stehe auf und öffne die Tür, im gleichen Moment höre ich das Mittagsgebet von der nahe gelegenen Moschee. Ich sehe sie beten: Sie steht auf, beugt sich runter, steht wieder auf, kniet, berührt den Gebetsteppich mit der Stirn und murmelt dabei die ganze Zeit. Ich schließe die Tür. Ich greife in meine Tasche, aber die Stimme des Muezzin ist laut und von Gott erfüllt, und ich wage es nicht.
    Third Base – nie erreicht. Einmal setzte sich Asja an einem Brunnen auf mich drauf, und wir waren für unsere Verhältnisse

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