Scherben
Gitarre, die schon bessere Zeiten erlebt hatte. Sie klang wie auf Halluzinogenen.
Ich erinnere mich nicht, worüber wir geredet oder was wir getan haben. Ich erinnere mich nicht mal, ob es draußen noch hell war. Ich erinnere mich nur, dass ich mitten im Satz erstarrte, als ich hörte, wie in der Ferne eine Kanone abgefeuert wurde – zu diesem Zeitpunkt konnte jeder eine Kanone von einem Mörser schon am Klang unterscheiden. Seit jenem Vormittag im März hatte es keinen Beschuss mehr gegeben.
Die Zeit implodierte. Meine innere Uhr war darauf eingestellt anzuspringen, sobald ein Schuss erklang, ich zählte die Sekunden, bis das Geschoss die Stadt erreicht haben würde, insgesamt drei – auch das wussten alle. Drei Sekunden, um in Deckung zu gehen, zu rennen, zu beten, einen Gedanken zu behalten oder sich zu erinnern. Drei Sekunden.
Eins, eintausend.
Zwei, eintausend.
Drei, eintausend.
Filme werden ihm nicht gerecht – mehr sage ich nicht über das gedankentötende, atemabschneidende Geräusch einer herannahenden Granate, die auf ihrem Weg ins Zentrum deiner Stadt die Luft durchschneidet, zwischen drei der beliebtesten Cafés, ein Stück rechts vom Popcornverkäufer inmitten Hunderter Bürger einschlägt, die so tun, als sei alles in Ordnung und als wäre der Krieg bald zu Ende. Aber das wusste ich da noch nicht.
Drei Sekunden Stille, dann WUMM! Ziemlich nah. Sirenen heulten auf. Wir rannten ins Wohnzimmer, weil man von dort aus die Innenstadt sehen konnte, Branka stand schon am offenen Fenster.
»Weg von den Fenstern«, sagte sie.
»Komm schon, Mama«, erwiderte Omar und sah raus.
»Wollt ihr nicht in den Keller gehen?«
»Ist doch nicht unser erstes Mal.«
Wir horchten auf weitere abgefeuerte Geschosse. Alles blieb ruhig.
»Du riechst nach Zigaretten«, sagte Omars Mutter, und er protestierte kraftlos mit einem Brummen. Wir guckten weiter raus.
Ein Auto raste die südliche Ringstraße entlang, ein roter Fiat Zastava 101, Fehlzündungen knallten, und er zog graue Qualmwolken hinter sich her. Dann andere Autos. Dann Fahrräder. Dann rannten Menschen. Alle eilten ins Zentrum.
Ich beschloss, nach Hause zu gehen, da ich wusste, dass die Polizei die Sperrstunde vorverlegen würde. Also verabschiedete ich mich und ging. Die Nacht war ruhig, und ich nahm den Weg am Fluss. Als ich am Gymnasium vorbeiging, sah ich jemanden Graffiti an eine Wand sprühen und blieb im Gras stehen, bis ich lesen konnte, was er schrieb: Geheiligt werde dein Name . Dem Gesicht des Zombie-Cyborgs namens Edie nach zu urteilen, das direkt daneben gesprüht war, handelte es sich um keine religiöse Botschaft.
Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern völlig außer sich. Mutter war wütend, gar nicht in der Lage zu sprechen. Vater wollte wissen, wo ich herkam, warum ich nicht angerufen hatte. Ich ging an ihm vorbei in die Küche und schenkte mir ein Glas Wasser ein.
»Mach den Mund auf, damit ich’s euch sagen kann«, sagte ich. Das lässt sich nicht richtig übersetzen, aber es heißt so viel wie: Geht euch nichts an .
»Was ist los mit dir? Weißt du nicht, was passiert ist?«
»Doch. Eine Granate hat die Stadt getroffen. Wahnsinnig aufregend.«
Er blieb einfach dort stehen, und ich ging in mein Zimmer, wo mein Bruder mit bleichem Gesicht fernsah.
Und so sah ich alles im Fernsehen: den abgetrennten Fuß eines Kindes am Bordstein; Überlebende, die Verletzte auf die Rücksitze von Autos stapelten und auf die Dächer klopften, wenn niemand mehr hineinpasste, um den Fahrern zu signalisieren, dass sie aufs Gas treten sollten; Blut, das in einen Kanalschacht tropfte, in dem Popcorn schwamm; Dutzende Menschen, die auf dem Kopfsteinpflaster lagen, zumeist reglos; den enthaupteten Leichnam, der in einem grünen Sweatshirt aufrecht im Café saß, eine noch glühende Zigarette im Aschenbecher vor ihm.
Das war die letzte Granate, die meine Stadt traf.
Tote: 71.
Durchschnittsalter der Opfer: 23.
Verletzte: circa 124.
Mein Cousin Garo starb bei dem Angriff, und noch ein paar andere, mit denen ich irgendwann mal zu tun hatte.
Mein Bruder und ich durften nicht zur Beerdigung gehen. Die Stadt war starr vor Angst, es könne einen weiteren gezielten Angriff auf eine Massenansammlung von Zivilisten geben, weshalb Zeit und Ort der Trauerfeier in den Medien nicht bekannt gegeben wurden.
Man begrub sie schließlich ein paar Tage später im Morgengrauen auf einer Lichtung im Banja Park. Meine Eltern waren dort. Mutter erzählte mir später,
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