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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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gedacht.
    »Nichts«, hörte ich mich sagen. »Ich fahre nach Edinburgh und dann komme ich zurück.«
    »Sei doch nicht blöd«, sagte Asmir. »Sie ist deine erste Freundin. Ich weiß, dass dir das wie ein Riesending vorkommt, aber sie ist die Erste. Du kannst nicht dein Leben wegwerfen, nur weil du mit siebzehn glaubst zu wissen, was Liebe ist.«
    »Achtzehn.«
    »Noch schlimmer.« Er nahm einen Schluck. »Das wird nichts.«
    Bokal kam mit einer neuen Zigarette zu uns rüber.
    »Ismet sagt, er würde wieder zurückkommen, wenn wir’s nach Edinburgh schaffen.«
    »Wieso das denn?« Bokal guckte völlig entgeistert.
    »Er liebt seine Freundin.«
    »Hör zu. Wenn du rauskommst und dich dann noch mal hier blicken lässt, solltest du dich vor mir verstecken. Wenn ich dich erwische, schlag ich dich zum Krüppel.«
    »Kann dir doch egal sein.« Ich lachte, obwohl ich wusste, dass er’s ernst meinte.
    Bokal ignorierte mich. Asmir und er redeten über Kunst und über die Mädchen, die auf der Toilette verschwanden und wieder herauskamen. Ich sagte kein Wort. Ein Teil von mir wollte nach Batva rennen, bei Asja klingeln und von Mann zu Mann mit ihrem Vater reden, ihn für mich einnehmen, seine Tochter heiraten, in den Krieg ziehen, Dörfer befreien und jede Woche von der Front zu meiner großen Liebe zurückkehren. Der andere Teil sah sich auf einem Schiff, alleine, auf der Flucht vor dem September. Ich stellte mir Schottland vor, wie es dort aussah. Ich stellte mir grüne Wiesen und fröhliche Schotten mit roten Bärten vor, langhaarige Yaks und alte Burgen, feuchtes Kopfsteinpflaster und sagenumwobene Ungeheuer, die sich in Seen versteckten, Sachen, die ich gelesen hatte.
    Irgendwann hörten wir draußen zwei Schüsse, und alle Leute im Café sprangen auf und stürzten hinaus in die Nacht zum Eingang des Parks, wo irgendwas passiert war. Angetrunken folgten wir der dunklen Menge, und dort stand ein Berg von einem jungen Mann mit einer offenbar uralten doppelläufigen Flinte über der Schulter im Mondlicht und deutete auf den Boden. Die Raucher ließen ihre Feuerzeuge aufschnappen, um besser sehen zu können, wen er erschossen hatte, und ich sah, dass der junge Mann, der alle um einen Kopf überragte, die Uniformjacke eines Waldhüters oder eines Wachmanns trug. Momentelang verlor ich ihn aus den Augen, weil er in die Hocke ging und ich Bokal folgte, der sich mühelos einen Weg durch die Menge bahnte. Als der große junge Mann wieder auftauchte, sah ich sein Gesicht und erinnerte mich an ihn.
    Wir waren gemeinsam gemustert worden, also gleich alt, doch im Gegensatz zu mir sah er an jenem Tag aus wie ein Soldat. Mit freiem Oberkörper wirkte er wie in Stein gemeißelt, er hatte den Vollbart und den Körpergeruch eines Mannes. Sie wollten ihn zur Militärpolizei schicken, aber er bettelte darum, zu den Sondereinheiten zu dürfen. Sie sagten nein, aber er machte sich über sie lustig, provozierte, furzte und schaffte es schließlich, einen der hochrangigen Militärs so zu verärgern, dass er einer Einheit zugeteilt wurde, bei der die durchschnittliche Lebenserwartung eine Woche nicht überschritt.
    Die Menge teilte sich, und was ich dort am Boden liegen sah, war hager und pelzig.
    Es war Archibald.
    Ich kniete mich neben ihn und berührte sein Hinterbein. Mir war zum Heulen. Ein Loch klaffte in seinem Brustkorb. Knochen stachen heraus und leuchteten weiß im Mondschein.
    »War das deiner?«, fragte der Riese.
    »Das ist Archibald«, sagte ich und ging zurück zum Café. Asmir kicherte, weil er dachte, ich wollte den Typen verarschen. Es war ein Omen, und ich war betrunken und wollte nach Hause.
Mai
    Am 25. ging ich nach der Probe zu Omar, ohne vorher anzurufen. Es war später Nachmittag. Ich stand vor dem Haus, rief seinen Namen, und er streckte den Kopf aus dem Fenster im zweiten Stock. Ich wollte was unternehmen, er wollte lieber zu Hause bleiben und sagte, ich solle hochkommen. Wie üblich gab ich klein bei, und er schickte seinen zehnjährigen Bruder runter, damit er mir die Tür aufschloss. Ich zog Boro damit auf, dass er eine Freundin habe, er erwiderte, ich solle »mich ficken«, woraufhin ich ihn die Treppe hochjagte – unser übliches Programm.
    Omar saß am Fenster, rauchte und versuchte, den Rauch nach draußen zu blasen.
    »Mach die Tür zu«, sagte er und versprühte Lufterfrischer mit Jasminduft.
    Ich hockte mich auf denselben Platz wie immer, auf dem Sofa, mit dem Rücken zur Stereoanlage, und nahm mir die alte

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