Scherben
ein Vogelschwarm sei aus dem Wald aufgeflogen und habe Kreise über den Versammelten gezogen, dann sei er davongeflogen. Sie sagte, sie habe nie zuvor so viele Vögel auf einmal gesehen.
Als ich das erste Mal zu diesem besonderen Friedhof ging, um Garo die letzte Ehre zu erweisen, war jedes Grab mit einem Foto versehen. Ich ging zwischen den Hügeln aus aufgeworfener und noch feuchter Erde umher, schaute in mir unbekannte Augen, erkannte hier und da ein paar Gesichter und suchte meinen Cousin. Sein Grab war perfekt. Es roch wie ein gepflügtes Feld. »1964-1995« stand darauf.
Ich verließ den Friedhof, blieb dann aber stehen und kehrte noch mal zurück. Es war das Nagen eines unbestimmten Gedankens, das Gefühl, etwas übersehen zu haben. Noch einmal ging ich durch die Reihen und betrachtete die Fotos, und als ich es sah, zerriss es mich. Garo war mein Cousin, doch der Anblick seines Grabes erschütterte mich nicht so sehr wie das dieses Fremden. Sein Bild war unscharf und sah ihm nicht besonders ähnlich, aber ich erkannte die Augen, den Vollbart und die breiten Schultern. Etwas presste mir die Brust zusammen. Mir wurde schwindlig. Ich musste mich auf die feuchte Erde setzen.
»Mustafa Nalić«, stand da. »1977-1995.«
Der Mann, der Archibald erschoss.
Von da an konnte ich kaum mehr einschlafen. Die Dunkelheit sickerte von der Zimmerdecke und hüllte mich ein mit ihren trübsinnigen Partikeln. Ich zog mir meine Kinderdecke mit den schlafwandelnden Donald Ducks übers Gesicht, schaffte es aber nicht, die Augen geschlossen zu halten. Die Dunkelheit bahnte sich ihren Weg durch die Feuchtigkeit meiner Augen, durch meine Poren und meine Haarwurzeln bis hinein in meine Gedanken, und die Schatten in meinem Zimmer sprangen mich an wie kläffende Hunde oder unheilbringende Störche, die totes, tropfendes Fleisch in ihren Schnäbeln hielten.
Ich träumte von ihm. Die beiden Erinnerungen quälten mich, ich versuchte mich ganz genau zu erinnern. Ich stelltemir vor, wie er vor seinem Tod gelebt hatte. Wer war er? Wie war er? Er verschwand nie aus meinen Gedanken.
Ich begann ihn zu sehen. Ich sah ihn überall. Zuerst vom Balkon aus. Er stand unten vor dem Eingang und beobachtete die Kinder, die Double Dragon spielten. Dann sah ich ihn in der Schule, auf der Treppe. Er war Statist in den Filmen, die ich guckte, wenn es Strom gab. Er war zu Gast bei uns zu Hause, saß auf dem Bett meiner Eltern, nickte uns schweigend zu. Ich sah seine Zehen im Abfluss unserer Badewanne.
Warum?
Er war irgendein Typ, ein Fremder. Irgendein Scheißkerl, der darum gebettelt hatte, für ein Sonderkommando eingeteilt zu werden.
Und jetzt war er Mustafa Nalić. Jetzt war er tot und lag zusammengesetzt wie ein Puzzle in einem dürftigen Sarg, wahrscheinlich fehlten ein paar Teile, waren in den Gulli gekehrt und vom Industriewasser aus der Chemiefabrik weggespült worden. Vielleicht fehlten auch Teile seines Schädels und würden nie wieder mit dem Rest vereint werden. Vielleicht wanden sich noch einige seiner Fingerspitzen unter dem Asphalt und würden niemals in Frieden ruhen.
Ich schlich auf dem Friedhof herum, wartete darauf, dass jemand kam, der ihn gekannt hatte. Niemand betete an seinem Grab.
Ich hörte mich um, erkundigte mich nach seiner Familie, seinen Freunden. Keiner kannte sie, aber die Leute erzählten mir trotzdem alles Mögliche:
»Der Junge heißt Mustafa, Muche haben sie ihn genannt. Er hat in der Jagdhütte gearbeitet und Jagdausrüstungen vermietet. Der war vielleicht verkorkst, der Junge.«
»Hat seinen Vater verloren.«
»Keine Ahnung, wo der herkam, wahrscheinlich irgendwo aus dem Drina-Tal, aber man hört so einiges über ihn, dass er sie nicht mehr alle hatte. Das kannst du jetzt glaubenoder nicht, aber ich hab gehört, dass er von Anfang an nicht ganz richtig getickt hat und dass ihm der Krieg den Rest gegeben hat.«
»Er hat seinen Vater geliebt.«
»Nalić? Die Nalićs sind verrückt! Angeblich hat mal ein Nalić einen Mann wegen einem Kürbis ermordet. Hat ihm ein Messer in den Bauch gerammt, ist dann irre geworden und hat sich auf seinem Dachboden zu Tode gehungert.«
»Der hat seinen eigenen Vater umgebracht. Das weiß jeder.«
»Der hat seine ganze Familie verloren, die arme Sau.«
»Mein Nachbar hat neben denen gewohnt, das ist die reine Wahrheit. Flüchtlinge. Als die Tschetniks in ihr Dorf kamen, hat er gesehen, wie sich sein Vater in der Sickergrube versteckt hat. Als sie an ihr Haus kamen, haben sie
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