Scherbengericht: Roman (German Edition)
herauf. »Erinnerst du dich, Elias, wir waren damals mit Gretl und Alberto in der Aufführung?« Elias aber hatte, ebenfalls mit geschlossenen Augen, nur genickt und einen merkwürdigen Summton im Kehlkopf angestimmt, ihn variiert und sich erst nach einer Weile an sie gewandt: »Clementine, ich musste immer über den Grundton in diesem unserem Lindenbaum-Ensemble nachsinnen; jetzt, endlich, meine ich ihn entdeckt zu haben: es ist der Ton der b-Moll-Saite auf dem Cello.« Es sei ihm ohne Instrument gelungen, genau auszumachen, womit der rundum vibrierende Vogel- und Insektenchor ideal harmonieren würde.
»Du bist mir einer – findest immer die Schmoll-Saite im Leben heraus …«, neckte ihn die alte Feundin.
»Ach, Clementine, wenn ich es doch nur zusammenbrächte, was Schopenhauer so wunderbar über Musik geschrieben hat, etwa, dass es zwei allgemeine Grundstimmungen des Gemüts gebe, Heiterkeit – oder wenigstens Unternehmungslust – und Melancholie, Trübsal oder Beklemmung. Und dafür gebe es zwei umfassende Tonarten, Dur und Moll, die jenen beiden entsprechen. Er bezeichnet es als wunderbar, dass es in jeder Musik ein unverkennbares und sogleich ansprechendes Merkmal der schmerzlichen Grundstimmung gibt: das Moll. Daran lasse sich ermessen, sagt er, wie tief die Musik im Wesen des Menschen gegründet sei. Das ist mir immer sehr nahegegangen.«
»Ja, ja, immer dein Schoppenhauer …«
Und gerade bei diesen Worten war Rotraud mit den Neuankommenden erschienen. Martin und Katha hatten Siegmund Rohr vorausstaksen lassen. Zuerst hätte der Dackel gern das zittrige Herrchen zum Grillplatz hinübergezerrt, aber ein scharfer Riss an der Leine und ein schneidendes »Lumpi, folg!«, hatten den Hund zurückgehalten.
Als Rohr sich in den Baumschatten grüßend hineinbückte und abwartend sein Wort verzögerte, kam ihm prompt die vertraute Strophe aus dem »Weißen Rößl« entgegen: »Was kann der Sigismund dafür, dass er so schön ist …« , sang die Jubilarin, worauf Siegmund Rohr sofort mit krächzendem Tenor seine Erwiderung aus einer späteren Operette anstimmte : »Ich hab die schönen Maderln net erfunden …« Nach den ersten Worten schloss sich Clementine ihm an, und sie sangen noch ein Sückchen im Duett weiter.
Dann erst schien Clementine ihren Martin und die Enkelin wahrzunehmen. »Na endlich, mein Großer! Was habt ihr da nur für einen Umweg genommen! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass ihr’s nicht mehr rechtzeitig zu meinem Geburtstag schafft – ausgerechnet zu meinem letzten.« Und an Katha gewandt: »Na, dass man dich endlich wieder sieht, mein Kind! Lass mich schau’n, was sie dort in der Anstalt mit dir gemacht haben.« Aber die Erwiderungen wartete sie gar nicht erst ab: Siegmund wurde angewiesen, ihr gegenüber Platz zu nehmen, und Katha, nachdem sie »Onkel Elias« begrüßt hatte, an ihre linke Seite befohlen. »Wegen Elias – auf dem rechten Ohr hör ich besser«, erklärte sie der Enkelin.
Katha hatte »Onkel Elias« mit einem Kuss begrüßt, und der hatte sie dabei in einer langen Umarmung in seine Herrenparfümsphäre hineingezogen. Dann wünschte er Martin ein gutes neues Jahr und beide berichteten einander kurz, wie sie den Silvesterabend verbracht hatten. »Bei uns Alten ist es reichlich spät geworden. Weißt du, wir müssen ja jedes neue Jahr feiern, als wäre es das letzte.« Martin hielt seine Hände wie zum Gebet gefaltet an den Mund und flüsterte ihm beichtbegierig zu: »Ich muss es dir schon jetzt sagen, Elias, es war ernst; ich lag am Boden – pulverisiert, jetzt sehe ich einen Hoffnungsschimmer …«
Der Psychotherapeut legte ihm die Hand auf den Arm. »Martin, darüber reden wir noch.« Er sagte es ebenfalls ganz leise. Dann richtete er sich auf und fügte laut hinzu: »Eine blühende Schönheit, deine Katha!«
»Das habe ich vorhin auch schon festgestellt, nicht wahr?«, beeilte sich Siegmund Rohr zu vermelden.
»Du wirst sehen, wir schaffen das«, tuschelte Elias noch schnell auf Martin ein, wobei vielversprechendes Faltenspiel wie der Vorhang für den letzten Akt über sein zerklüftetes Schamanengesicht huschte.
Der Tisch war bereits gedeckt, einfach, ohne den Zierrat einer besonderen Festlichkeit – im Sommer wurde ja immer, sooft das Wetter es zuließ, unter dem Lindenbaum gespeist. Elf Gedecke nur, denn Rotraud hatte sofort nach Siegmunds zugeflüsterter Mitteilung die Cirigliano-Teller unauffällig mit der ebenfalls geflüsterten Bemerkung
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