Scherbengericht: Roman (German Edition)
hob sie ihr Gesicht und blickte in das Blatt- und Astwerk der grünen Baumkuppel. Den echauffierten und wirr daherredenden Gabriel, der ihre Festrunde mit einer Affenhorde verglichen hatte, würdigte sie keines Seitenblicks. Zugleich entdeckte sie erst jetzt, dass Rotraud dort oben ein paar bunte Luftballons befestigt hatte. Was war diesem bäuerischen Gemüt da eingefallen? Sie feierten doch keinen Kindergeburtstag! Heftiges Vogelgezwitscher war im grünen Dunkel ausgebrochen, verstummte wieder, setzte erneut ein, in steter, unruhiger, unerklärlicher Abwechslung. Von Olga Rebikoff keine Spur in diesem Irrenhaus. Aber sie vernahm diesmal eine innere Stimme – und die hörte sich ganz wie Schorsch an.
»Mischehen sind unbedingt zu vermeiden. In der Mischehe ist der Konflikt schon angelegt: rassische Mischung, nationale Mischung, soziale Mischung. Unter solchem Durcheinander leiden dann beide Partner – und ihre Kinder, wie die bedauernswerten Halbjuden Gabriel und Katha, die ja im Grunde, das ist schon wahr, nichts dafür können. An solchem Mischmasch wird die moderne Welt zugrunde gehen, zuerst die USA , dann Österreich – wir haben es ja schon einmal erlebt. Jetzt kommen die Slawen wieder, die Türken, die Serben, die Asiaten, sogar die Afrikaner; Juden gibt es ja kaum noch in Österreich. Ob die nicht doch das kleinere Übel gewesen wären?«
Treugott hatte sich indessen Gabriel genähert, weil er alles über Futterer hören wollte – immerhin war das ein Nachbar, und es ging so viel Gerede über die Schaler im Tal um. Die Bemerkung Gabriels über die »Blöden«, die einfach zu dumm seien, um die furchtbare Täuschung des Lebens zu entlarven, war ihm nahegegangen. Und noch etwas machte Treugott zu schaffen, das vielleicht nur ihm und Dr. Holberg aufgefallen war: wie Gabriel sich eine zweite Riesenportion vom Kipflerkartoffelsalat auf den Teller geladen, die Bitte seines Vaters jedoch, sich auch eine Portion nehmen zu können, glatt ignoriert hatte – um die Bleikristallschüssel sodann gleichgültig wieder in die Mitte der Tafel zurückzuschieben.
Vielleicht war es diese Beobachtung, die den Hausherrn veranlasste, abermals einen seiner Kernsprüche aus dem Repertoire von Radio Habana für alle zu Gehör zu bringen. »Wir werden es nicht dulden …« – setzte Treugott mit zunächst gepresster, dann flötend hoherComandante-Stimme an – »… ja, werden es einfach nicht dulden, dass einige Menschen weiterhin ihre egoistischen Instinkte, ihre hemmungslose Selbstsucht, ihren kleinbürgerlichen Individualismus ohne jede Rücksicht auf ihre Brüder und Schwestern austoben, ja dass sie ein Leben führen wie Wölfe unter den Menschen. Homo homini lupus – damit ist es bei uns endgültig vorbei!«
»Hör du nur endlich auf mit deinem ewigen Galgenhumor!«, fuhr Rotraud lachend dazwischen. »Nach deiner Revolution werden wir nur mehr ein paar Bohnen und Reis zu essen haben. So weit ist es doch auf Kuba gekommen.«
Treugott überhörte den ohnehin nicht ganz ernst gemeinten Vorwurf seiner Frau und deklamierte in sein Doppelkinn hinein mit leiser Bauchrednerstimme aus dem Schatzkästlein erinnerter Fidel-Sprüche. Schließlich beugte er sich entschuldigend zwischen Gretl und Siegmund in die Tischmitte vor und packte die schwere Bleikristallschüssel. Als er sich damit Martin zuwenden wollte, fuhr ihm ein blitzartig zustechender Schmerz ins Becken, er zuckte zusammen, das Kretschmer’sche Erbstück rutschte ihm aus der Hand, schlug am Tisch auf und zersprang mit einem knallharten Krach. Rotraud jaulte oder schrie auf: »Mein böhmisches Kristall! Kaputt!« Und als könnte sie dieses Unglück sitzend nicht ertragen, schnellte sie hoch und lief, wild den Oberkörper wiegend, kreuz und quer über den Rasen. »Kaputt, kaputt …«, stieß sie in einem fort aus und schlug sich dabei, als müsste sie sich selbst bestrafen, mit beiden Händen auf die ausladenden Hinterbacken. Solcherweise angetrieben, verschwand sie im Haus.
»Scherben bringen Glück«, konstatierte Clementine ungerührt.
»Bei den Schalern essen wir nur aus Holzschüsseln«, sagte Gabriel. »Und jeder bedient sich selbst.« Dabei schaute er weiterhin konsequent an seinem Vater vorbei.
Und Elias konnte oder wollte sich angesichts der Trümmer – und vielleicht in der Hoffnung, den betroffen dreinschauenden Treugott zu erheitern – einen Kalauer, der ihm auf der Zunge brannte, nicht versagen: »Jetzt ist aus dem kakanischen Kartoffelsalat ein
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