Scherbengericht: Roman (German Edition)
Scherbengericht geworden.« Treugott empfand oder verstand das nicht als Scherz. Sein Blick folgte Rotraud beim selbstbestrafenden Herumirren über den Rasen.
Alsbald erschienen Mirta und Delia mit Eimer, Besenschaufel und Tüchern und machten sich ans Einsammeln der Scherben und ans Reinigen.
»Setz dich doch, Treugott!«, befahl ihm Clementine. »Es ist doch eh nur um den Salat schade. Weißt du, mit dem habe ich nämlich beim Kauen keine Schwierigkeiten. Außerdem, das gute böhmische Stück hat sowieso nicht zu eurem gewöhnlichen Bauerngeschirr gepasst – und erst recht nicht in deine Pratzen.«
Weiterhin stumm und mit verbissenem Gesichtsausdruck kehrte Treugott an seinen Platz am Kopfende der Tafel zurück. Außer Clementine und Siegmund waren alle aufgestanden, um den Hausmädchen die Säuberungsarbeit zu erleichtern. Vorsichtig sammelten diese die Bruchstücke ein, bewunderten ihr Gefunkel und verglichen einige davon mit Edelsteinen. Martin trat in die Sonne, Gabriel entfernte sich zu seinem Gleitschirm und Benny folgte ihm. Gemeinsam rollten sie die Tragfläche ein und packten die Seile und Gurte zusammen. Dabei wechselten sie einige fachliche Bemerkungen über das Material, die Verankerungen, die neuen Aluminiumhaken, stabilizer, trailing edge und brake loop.
Katha beobachtete mit Gefallen das An- und Abschwellen der athletisch wirkenden Muskulatur, die sich unter dem Rolling-Stones-Shirt des Zahntechnikers abzeichnete. Ein rothaariger Typ wie sie selbst, Nacken und Arme mit Sommersprossen übersät. Und seine Sarah hatte eine fein gebogene Nase, große dunkelbraune Augen, ein spitzes Kinn und immer noch hohe, runde Brüste. Wenn man die beiden nahe beisammen sah, mussten einem unwillkürlich Gedanken ans Hinlangen und Anpacken, an vitale Umarmungen und Wendigkeit kommen. Sicherlich haben die beiden trotz ihrer vegetarischen Essgewohnheit noch häufigen, guten Sex, vermutete sie.
Kathas Gedankengang endete abrupt, als am Rand ihres Gesichtsfelds wieder die Gestalt Nickos auftauchte. Jenseits des wogenden Weizens, der in leuchtendem Grün vor ihr lag, ging der arme Kerl seinen hinfälligen Gang, ohne auch nur einmal zu der abwartend herumstehenden Gesellschaft herüberzublicken. »Schau, Pa« – denn der Vater stand neben ihr –, »dort ist es wieder, unser Rumpelstilzchen von vorhin! Jetzt erinnere ich mich, wir hatten auch so einen in der Anstalt. Der Arme musste den ganzen Tag herummarschieren, konnte nicht anders. Einmal hat er uns sogar erklären wollen, wie das ist.«
Gabriel und Benny waren ebenfalls auf die Erscheinung Nickos aufmerksam geworden und lauschten Kathas Schilderung.
»Du bekommst unversehens einen Schlag auf den Hinterkopf. Weiter! – ertönt der Befehl. Der Weg ist schmal, ein Grat nur, und Abgrund beiderseits. Es ist nicht hell genug, um klar sehen zu können, also ratsam, beim Vornüberfallen genau den Boden zu fixieren. Und wenn du dich dann aufrichtest: Sofort kommt wieder der Schlag, wie von einer unsichtbaren Faust. Weiter! Sich aufrichten ist furchtbar: Du weißt nicht, wann der nächste Schlag kommt. Das Beste wäre, sich überhaupt nicht mehr aufzurichten, aber das könntest du nicht durchhalten. Also musst du dich dem nächsten Schlag aussetzen, auch wenn du ihn vorausahnst, musst weitergehen und vornüberkippen, und wenn du dich aufgerichtet hast, empfängst du abermals den Schlag und hörst den Befehl – weiter! Einmal ist es die Stimme der Mutter, dann die deines älteren Bruders, dann die Schimpfworte und Befehle deiner früheren Quälgeister in der Schule oder am Arbeitsplatz, und, immer wieder und am häufigsten überhaupt, die Stimme deines Vaters.«
Katha machte eine Pause, Gabo nickte und warf ein: »Genau so ist es!«, die anderen schwiegen. Inzwischen war Nicko außer Sichtweite und die Schwester wandte sich dem Bruder zu. »Weißt du, Gabo, ich könnte Nicko helfen. Wenn ich ihn umarme und lange genug festhalte, bricht der Bann. So habe ich’s jedes Mal in der Klinik gemacht: Ich hab den armen Kerl umarmt und festgehalten, auch wenn er noch so gerüttelt und gezuckt hat. Dann ist er auf einmal ganz schlaff und still in meinen Armen gelegen. Ich habe zuerst gar nicht gewagt, ihn wieder loszulassen. Aber dann ist er ganz von selbst gegangen, mit ruhigem Schritt.«
Darauf sagte Gabriel nichts. Für eine Weile schienen alle nur die sanften, seidig aufglänzenden Wellen, die der frische Bergwind in das Meer der jungen Ähren drückte, zu bewundern. Da
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