Scherbengericht: Roman (German Edition)
bewährten Totenkopf stützen können.«
»Wie früher bei uns!«, unterbrach ihn ein Ausruf von Siegmund Rohr. Er war den Ausführungen des Jerusalemer Zahntechnologen mit großer Aufmerksamkeit gefolgt.
Gretl aber, weiterhin zwischen ihrem Neffen und Rohr sitzend, zuckte sichtbar zusammen – was zwar allen auffiel, aber von niemandem verstanden wurde. Selbst Elias, der sonst so schnell kombinierte, sah seine Frau fragend an. Es schien aber, als wollte auch Gretl unbedingt etwas sagen oder ebenfalls ausrufen, aber da fuhr Rohr bereits fort. »An der Umzäunung meines Grundstücks habe ich einmal Warnschilder mit einem roten Zickzackstrich und einem Totenkopf anbringen müssen, weil ich das Drahtgeflecht nachts unter Strom setzen wollte. Diese Schilder hätten auch den dümmsten Analphabeten abgeschreckt, sogar einen Geisteskrüppel wie Nicko. Aber die Gemeindeverwaltung von Quemquemtréu hat mir die Elektrifizierung nicht erlaubt, obwohl sie doch meiner Sicherheit gedient hätte.«
Vom Haus her wurde Rohr von der lauten Stimme Rotrauds unterbrochen; fröhlich und doch schrill. »So … so … so! So, jetzt ist aber endgültig Schluss mit der ewigen Herumquälerei!« Unter eruptiven Lachstößen kehrte sie mit dieser frohen Botschaft wieder zur Tafelrunde zurück – und schob einen nagelneuen, chromglänzenden Rollstuhl vor sich her. Überrascht drehten sich ihr alle Gäste zu, und bei Clementine und Siegmund hing der Unterkiefer herunter. Für wen mochte dieser Rollstuhl gedacht sein? Aber Rotraud lenkte ihn unmissverständlich auf ihren Mann zu und forderte ihn in liebevoll überredendem Ton auf: »Jetzt komm schon, Trigo, sei so gut – setz dich da einmal hinein. Das wird dein Leben ändern.«
Elias stand so schnell wie möglich, und offensichtlich alarmiert, auf den Beinen. Mit heftigem Faltenspiel trippelte er auf den bäuerlichen Freund zu. Der hatte immerhin aufgehört, wild den Kopf zu schütteln. Beunruhigt schaukelten die Augen des Psychiaters auf ihren Tränensäcken, sein Blick suchte ärgerlich Rotrauds Aufmerksamkeit, aber diese hatte bereits entschlossen ihre kräftigen Arme um Treugotts Leib geschlungen. Elias sah ihre feuchte Dirndlbrust, plattgedrückt gegen den Rücken ihres Mannes. Ohne Widerstand ließ sich Treugott auf den Rollstuhl ziehen. Wie ein Kind, das insgeheim bereits seinen Widerstand aufgegeben hat, aber noch eine abweisende Körperhaltung beibehält, ließ er sich auf den kunstledernen Sitz schieben; die Arme aber behielt er auf halber Höhe, wollte sie nicht gleich auf den gepolsterten Seitenlehnen ruhen lassen – als traute er der ganzen Sache nicht, als wollte er sich weiter überreden lassen.
Und so war es auch. »Na mach schon!«, redete Rotraud ihm zu und musste ihm die Hände mit sanfter Gewalt auf die Antriebsräder drücken; dann erst ließ er sich von ihr seine dicken Finger um die Metallrohre krümmen und verhielt sich bereits weniger störrisch, als sie darauf die Reifen sanft vor- und zurückschob – nicht, um ihm den ohnehin sinnfälligen Bewegungsmechanismus vorzuführen, als vielmehr, um so etwas wie eine erste Spur von Vergnügen an dem hilfreichen Gerät in ihm zu wecken.
»Das ist wirklich ein sehr schöner Rollstuhl«, sagte Siegmund Rohr aufatmend »So einen hätten wir auch gern, nicht wahr, Clementine …? Wo hast du dieses Wunderding nur so plötzlich herbeigezaubert, Rotraud?«
Damit schien der peinliche Moment überwunden. Rotraud brachte ihren Mann wieder am Kopfende der Tafel in Stellung, und Elias, der etwas in sich hineinbrummte, kehrte an seinen Platz, Treugott gegenüber, zurück.
Clementine wandte sich dem misstrauisch blinzelnden Herrn des Tilo-Hofes zu und ergänzte Siegmunds Urteil: »Siehst du, so einfach ist das: Du setzt dich hinein und beginnst ein neues Leben. Sei mir nicht bös, Treugott, aber der Stuhl passt dir wie angegossen!«
Der hob endlich den Kopf. Der verbissene Ausdruck war aus seinem Gesicht gewichen, er begann, seinen Oberkörper zu spannen und zu dehnen und durchzuatmen, beinahe wie ein Rollstuhlprofi vor dem Beginn eines Behindertenturniers. Er räusperte sich und bog routiniert die Mikrofone auf seinem imaginären Rednerpult zurecht. Dann legte er als Comandante wieder los:
»Bedenkt, liebe Kampfgenossen, dass unser Land jedem Menschen, der geboren wird, real und absolut die gleichen Möglichkeiten zur vollen körperlichen und geistigen Entwicklung und Entfaltung einräumt. Hat je ein Land mehr für die
Weitere Kostenlose Bücher