Scherbengericht: Roman (German Edition)
Wohnung gewesen. Aber vielleicht hatte er zugelassen, dass man sie in die Anstalt sperrte, um sich ungestört mit einer Geliebten zu treffen. Ihr Haar hing auf den Vater hinab und einige Spitzen berührten seine nackte Brust. Darauf setzte das Schnarchen aus. Katha richtete sich auf, aber das Gesicht des Vaters blieb reglos – oder blinzelten jetzt seine Augen? Es war nicht hell genug, das zu erkennen.
So denkt er an mich! Träumt womöglich von schönen Weibern oder so und vergisst, mich zu wecken, stellt sich tot. Dabei hat er es mir doch versprochen!
Katha ging ins Badezimmer. Sie würde nicht duschen, das hatte sie schon am Vorabend ausgiebig getan. Mit Roberto Williams war verabredet, dass er sie beide früh am Morgen abholen werde. Vielleicht wartete er bereits in der Lobby. Wie alt mag er sein? Im Internet hatte sie von dem Kommunikationswunder dieses jungen Tierschützers aus alteingesessener walisischer Kolonistenfamilie erfahren. Er habe intuitiv gelernt, die »deep voices« der Wale, vornehmlich der Glattwale, zu verstehen und auch selbst hervorzubringen. Die Tiere kennten ihn, kämen zu ihm, und er könne sich mit ihnen unterhalten.
Aber dann beschloss sie, zuerst ihr langes rotblondes Haar zu bürsten. Sie beobachtete sich dabei – mit gesenktem, mit erhobenem, auch mit zur Seite gebogenem Hals. Den Kopf sanft nach vorn und dann nach links neigen, und unter einer schweren Locke einen fragenden Blick auf das Gegenüber werfen, in den Mundwinkeln ein Lächeln andeuten – das fand sie super. Oder doch den Kopf seitlich rechts nach hinten werfen, das aufgelöste Haar zurückfallen lassen, die Lider senken und den Mund einen Spalt öffnen, sodass ihre regelmäßigen Zähne durchschimmerten. Sie zeigte die Zungenspitze – nein, das wirkte verblödet! So waren einige Insassen in der Klinik immer herumgetorkelt. Und einmal hatte sie etwas ganz Tolles erlebt: wie die Zunge eines Patienten bei einem Anfall weit heraushing, unglaublich lang, tropfend, einmal steif, einmal schlaff, violett oder gelblich. Und meine Nase? Ja, die Nase ist schön, mit feinen Muscheln; sie ist etwas groß, sie bestimmt mein Gesicht. Es gibt ein Lippengesicht, ein Augengesicht, ein Stirngesicht – ich hab ein Nasengesicht. Ist meine linke Brust kleiner? Nein, jede füllt gleichmäßig die hohle Hand. Meine Brustwarzen haben die Farbe meiner Haare, sie sind zu hell, stehen in einem Meer von Sommersprossen; überall Sommersprossen auf meiner blassen Haut. Mit den Augen nicht strahlen, das ist kindischer Optimismus. Die Lider eine Spur versteifen, wie um Sehschärfe zu gewinnen, und mal mit den Wimpern zittern – das kann spöttisch und zugleich fragend wirken. Und passt zur Nase.
Sie streifte ein weißes T-Shirt über. Auf der Brust prangte das blau-schwarze Symbol der Ocean Alliance . Vor dem gestrigen Abendessen hatte sie es in der Boutique des Motels gekauft, zusammen mit einer ebenso beschilderten Baseballkappe. Dem Vater hatte sie die gleiche Mütze aufgedrängt. Das würde Roberto Williams sicherlich gefallen. Im T-Shirt und mit der Mütze wiederholte sie die Kopfbewegungen von vorhin, aber es störte sie, dass das Haar unter der Kappe in den Nacken gedrängt wurde. Sie musste es zuerst rundum wieder herabfallen lassen, sich dann die Mütze neu aufdrücken – und jetzt konnte man ihre Bewegungen anders verstehen. Die eine warb: »Seid lieb zu den Walen!« Die andere drohte: »Kommt ihnen nicht mit Gewalt!« Nicht mehr träumerisch, topless und sommersprossig wie eben noch, sondern mit dem ausdrucksstarken Symbol der gespaltenen Schwanzflosse auf ihrem Busen, und statt des wohlgeföhnten Model-Kopfes die militante Wirkung der Mütze über wildem Haar. Sah toll aus. Die sanfte Meerjungfrau hatte sich in eine Kämpferin verwandelt, gerüstet zur Kampagne, sei’s gegen explodierende Harpunen oder gegen Tretminen.
Sie hörte den Vater im Zimmer husten.
»Pa, guten Morgen. Ich bin schon fertig!«
Im Hinausgehen mahnte sie ihn: »Beeil dich! Roberto ist womöglich schon da – ich schau nach, ja? Und vergiss bitte deine Kappe nicht!«
Im Salon klapperte und plauderte eine große Zahl von Gästen, die meisten unter ihnen waren grau- und weißhaarig. Vorhin, auf dem Parkplatz, war ihr ein rot-blauer doppelstöckiger Fernbus aufgefallen. Die Gesellschaft war wohl nachtsüber gereist, um sich eine Übernachtung zu ersparen. Alle Senioren hatten sich sportlich kostümiert, allen stand ein bewegter Tag bevor: die Beobachtung und
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