Scherbengericht: Roman (German Edition)
Bekannter da beschrieben. Soweit ich Offiziere der Sturmstandarten kennengelernt habe, sind sie alle, um das vom Autor frech vereinnahmte Wort einmal korrekt anzuwenden, kerndeutsch gewesen, also ohne Schwachheiten. Und außerdem, ein Konzentrationslager namens Tarnowitz, von dem in der Geschichte die Rede ist, hat es nachweislich nie gegeben. Noch ein paar solche Erfindungen, bittschön, und man kommt leicht auf sechs Millionen.«
Über dem gestrigen Abend war kein guter Stern gestanden. Sie hatte in der zweiten Mensch-ärgere-Dich-nicht-Runde verloren, sogar noch hinter dem notorischen Verlierer Elias. Aber das war schließlich purer Zufall gewesen, genauso wie das Spielglück der naiven Rotraud. Wie ihre Wurstfingerchen unter Gekicher auf dem Tisch herumgrabbelten und sich die Würfel mit den sechs Punkten griffen, und dann dieses schnalzende Auflachen, wenn sie den Läufer eines Mitspielers aus dem Feld schlagen konnte – und ihn auch gleich eigenhändig, begleitet von einem befriedigten »So!«, vom Spielbrett räumte. Diese ausgehungerten sudetendeutschen Vertriebenenkinder! Lebenslang haftet ihnen der Nachholbedarf der Flüchtlingsgeneration an.
Ärgerlich, so ein Wetterumschwung. Sollte es denn nicht schon Sommer sein? Eine solche Dezemberkälte gehörte eigentlich weit weg und weit zurück – zu viel früheren Geburtstagen, denen von »drüben«, noch im winterlichen Aumühl bei Wien, im Wirtshaus ihrer Eltern. So eine gelbgraue Stimmung hatte es in den Hungerjahrzehnten gegeben, in der langen Misere nach dem Ersten Weltkrieg. Das passte zur Erinnerung an die Pissenden und Kotzenden in lichtlosen Hintergassen … Was ist sie doch damals für ein Unglücksvogel gewesen: Ihr Geburtstag fiel auf den Neujahrstag. Und den übernächtigten Rauschköpfen der Silvesterfeier war am Tag danach doch eh alles wurscht. Nur jene drei Geburtstage, zu denen auch der Schorsch erschienen war, heben sich strahlend von dem trüben Hintergrund ab. Das ist keine übernächtigte, das ist eine übermächtige Liebe gewesen! Anfangs, beim abendlichen Spaziergang auf der Bastei in Wien, schien es nur eine Liebelei zu sein … so viele andere Pärchen flanierten da auch. Aber dann ein Busserl, und noch eines, und mehr … In klagendem Ton summte sie sich etwas vor:
Beim Burgtor am Michaelerplatz,
da hat oft gewartet mein lieber Schatz.
Wir gingen zusammen auf die Bastei,
so glücklich war niemand als damals wir zwei.
Man braucht halt sein ganzes Leben, um die Wahrheit zu wissen, dieses endgültige: »Jawohl, das war’s. Damals.« An ihrem Zwanzigsten hatte der Medizinstudent Georg Plasch aus Korneuburg sie zum ersten Mal geküsst, und auch an den nächsten beiden Geburtstagen, und wahrlich nicht nur an diesen – aber danach waren noch sechsundsechzig (!) Geburtstage gefolgt, und den Neuesten feiern wir jetzt sogar ins dritte Jahrtausend hinein! Ohne den Schorsch freilich. Sie war ja selbst schuld gewesen. Bald nach ihrem Zweiundzwanzigsten war der argentinische Kunstgrafiker in ihr Leben getreten. Kommt von der Albertina herüber ins Café Tirolerhof, wo sie nach dem Damenschneiderkurs eine Jausenpause macht: ein Kipferl, in Malzkaffee getunkt. Sie sieht ihn herüberschlendern, das dichte, in der Mitte gescheitelte schwarze Haar streng mit Brillantine frisiert. Der Tangosänger aus einem romantischen Film, dessen Vater Konsul an der argentinischen Botschaft in Wien war. Er hat noch Farbflecken an den Fingern und spricht sie einfach an. Was er ihr in exotisch klingendem Deutsch von seiner Heimat erzählt, kommt ihr vor wie das Schlaraffenland – gemessen an der Wiener Misere und am zugigen Aumühl bei Wien mit seinen verschlammten Gassen. Außerdem vernachlässigte ihr Schorschl sie damals, wegen der Politik und seiner Heimwehr-Kameraden. Wie sie die Politik hasst! »Kannst du denn sicher sein, dass er kein Jude ist?«, hatte Schorsch sie zuletzt beleidigt, als sie sich dazu aufgerafft hatte, ihm ihre Entscheidung zugunsten Albertos mitzuteilen. »Bist du deppert?«, war ihre scharfe Erwiderung gewesen. »Er kommt aus einer uralten argentinischen Familie. Fünfte Generation! Skandinavische Herkunft – und adlig dazu. So ein Arier bist nicht einmal du.«
»Ach so, der Prinz von Holberg«, hatte Schorsch noch gefrotzelt und vor ihr einen übertriebenen Bückling gemacht. Und das war auch schon sein Abschied gewesen.
Denn cand. med. Georg Plasch musste zur Praxis an ein Krankenhaus nach Bregenz, und so haben sie einander
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