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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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galt: »Your Highness, we love you, too!«
    Sie hatte den fiesen, glatzköpfigen Einflüsterer vergessen, sie verstand jetzt selbst die Sprache der Wale. Beglückt, gelöst, wenn auch noch schwer atmend, schmiegte sie sich in Titos stramme Umarmung. Verlegen ließ dieser sie los und suchte wieder seinen Platz hinter dem Steuer. In ihrem nass auf der Haut klebenden T-Shirt setzte Katha sich selbstversunken und etwas neckisch wie die Kopenhagener Meerjungfrau zurecht, die Nixe mit der schönen Stimme. Roberto Williams, bleich und mit Blutspuren auf der Stirn, steckte die zerbrochene Ray-Ban in eine Wamstasche, zog hastig das Hydrofon aus dem Wasser und sammelte, ohne Katha anzusehen, wortlos die Kopfhörer ein.
    Tito startete. Eine hohe Fontäne schäumte hinter dem Heck empor und folgte ihnen im weiten Bogen, in dem das Boot wieder der Küste zuschnellte.

4
CLEMENTINE
    Das ist keine Zimmerlinde, wiederholte sich Clementine, als sie von ihrem Fenster auf den blühenden Baum in der Mitte des Gartens blickte. Der Morgen war trüb, sie sah, dass Wolken die Felszacken des Piltriquitrón verhüllt hatten. Aber ihr Lindenbaum leuchtete trotzdem.
    Der Anruf Martins, so spät am gestrigen Abend, von der patagonischen Küste … ärgerlich. Was dieser gute Mensch unter seinen durchgedrehten Kindern zu leiden hat! Ein Trauerspiel. Gabriel entweder in der Sekte oder in den Lüften, und Katha, na ja … Ich würde ihr die Wadln schon nach vorne richten. Und sogar Elias scheint bei diesen Familienverhältnissen am Ende seiner Weisheit angelangt zu sein. Sie hatte ihn ja schon danach gefragt, er hatte ihr aber nichts sagen wollen und sie nur mit wiegendem Kopf fixiert, was bald »na ja«, bald »na sowas«, oder auch »hmm hmm« bedeuten konnte, ohne dass er sich da festlegen würde. Wie üblich bei diesen Psychologen.
    Dass mein Sohn nur morgen rechtzeitig zur Geburtstagsfeier erscheint, wahrscheinlich zu meiner letzten! Damit drohte sie – es war ihr nicht entfallen –, zugegeben schon seit fünfzehn Jahren. »Clementine, vergiss es, zuerst bin ich dran!«, hatte sich da früher jedes Mal ihr Ehemann, Alberto Holberg, launig zu Wort gemeldet – bis er damit Ernst gemacht hatte. Elf Jahre ist das nun her. Damals freilich war ihr lieber Schorschl auch schon zehn Jahre tot gewesen.
    Nein, Martin, mein einziges Kind, sollte mir das nicht antun. Was hilft es denn, sich so für die Tochter oder den Sohn aufzuopfern? Was ihn allein schon diese Nervenheilanstalt gekostet haben mag! Und mit welchem Erfolg? Dass das Mädel jetzt mit den Walfischen redet, wie der Heilige Franz von Assisi. Und dass sie wie ein bildungsferner Teenager ausgerechnet diese britische Lady Di verehrt … Das Tschapperl! Auf solchem Niveau enden die letzten Verästelungen einer Patrizier-, ja einer Gründerfamilie … Weil sie von Generation zu Generation Landgüter und Stadtpalais erben und sich hinter hohen Hecken vorm wirklichen Leben verstecken können. Ihr eigener lieber Holberg-Spross war ja, Hand aufs Herz, schon ein verdorrender Ast dieses Geschlechts gewesen. Halb Künstler, halb Handwerker, aber auf jeden Fall immer halb, ein Anzeichen von Degeneration. Und war natürlich mit ebenso herabgekommenem Patriziat eng befreundet gewesen. Mit der »modernen« Malerin Norah Borges etwa, dieser faden Nocken, und mit ihrem sehbehinderten Schriftstellerbruder, dem Georgie – einem armen Schlucker, bis er zuletzt etwas bekannter geworden war. Der hat sich am La Plata auch noch Geschichten über Nazis und verfolgte Juden aus den Fingern gesogen. Abgeschmackt. Was gingen diesen blinden argentinischen Bücherwurm die reichsdeutschen Verhältnisse an, was konnte der von den Rassenproblemen wissen, verstehen!
    Das hat ihr dann auch Siegmund Rohr bestätigt. Dem hatte sie diese Borges-Erzählung über einen verurteilten und auf seine Hinrichtung wartenden Lagerkommandanten auf Deutsch zu lesen gegeben. Leider kam dadurch das Wort »kerndeutsch«, wie es im spanischen Original unübersetzt steht, nicht zu der vom Autor gewünschten Wirkung. Aber Sigi lehnt es nun einmal ab, Bücher in »hiesiger« Sprache zu lesen.
    Siegmund stammt aus der Umgebung von Linz, aus Mauthausen. Wenn einer ein KZ kannte, dann er! So konnte er ihr denn auch bestätigen, einem SS -Offizierstyp, der mit dem erfundenen und nach dem Zusammenbruch zum Tode verurteilten Otto Dietrich zur Linde vergleichbar gewesen wäre, nie und nimmer begegnet zu sein. »Einen intellektuellen Weichling hat dein

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