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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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ein Zeichen, den Motor abzuschalten. Katha sprang auf und bewegte sich übermütig im Takt mit dem schaukelnden Boot; in der Stille beschrieb sie die gleichen kreisenden Bewegungen, die sie bei ihrer Gymnastik mit dem Hulareifen zu vollführen pflegte, hob die Arme und summte dazu eine Melodie. Auf Tito, dem sie zublinzelte, schien ihr Tanz keinen Eindruck zu machen, er schaute an ihr vorbei aufs Meer. Roberto nestelte etwas aus einer der vielen Taschen seines Schweinslederwamses; eine Mundharmonika kam zum Vorschein. Zuerst ein paar einzelne prüfende Töne, und dann setzte er unvermittelt bewegt, begleitet von heftigen Stößen des Kopfes, zu einer lustigen walisischen Tanzweise an. Katha war von dieser Darbietung zuerst überrascht und wollte sie als Aufforderung zum Weitertanzen verstehen; sie lachte, begann sich noch auffälliger in den Hüften zu wiegen und klatschte den Rhythmus mit erhobenen Händen. Der musizierende Naturschützer aber beachtete nicht die Tanzende, sondern spähte bei seinem Spiel über die Wasserfläche. Tito, am Steuer festgeklammert, ebenfalls. Dann schien es Katha zuerst, als rollte eine große Welle heran, als höbe sich das ganze Meer – doch aus dem hochgewölbten Blaugrau brach eine schwarze, glänzende, wassersprühende Masse hervor, die sich im jähen Aufsteigen zu einem stumpfen Kegel verjüngte. Der war gekrönt von einem Kranz heller kleiner Buckel und krauser Wucherungen und schwankte viele Meter hoch vor ihren Augen. Doch diese düstere Erhabenheit einer Gesteinsmasse verflog beim Anblick der rührend kleinen, dazu auch noch winkenden Flossen auf beiden Seiten des triefenden Kolosses. Sogleich stürzte das Ungetüm in einem unerwartet eleganten Bogen seitwärts in die aufschäumenden, die Bootsinsassen überspritzenden Fluten zurück.
    »Das ist Docksider«, rief Roberto, »unser Größter!« »Docksider, ja«, wiederholte Tito, sprach es und grinste zum ersten Mal. »Toll, wie eine Rakete, wie eine Kathedrale!«, begeisterte sich Katha. »Hast du das gesehen, Pa? Statt mich anzustarren – hast du das gesehen?« Roberto steckte die Mundharmonika schnell in die Wamstasche, stemmte beide Arme auf seine runden Hüften, warf den Kopf zurück und presste ein paar hohe, krächzende und gurrende Laute durch die Kehle.
    »Ist das ihre Sprache?«, fragte ihn Katha. Roberto nickte und beeilte sich, aus einer weiteren, stark ausgebeulten Wamstasche ein schwarzes Instrument mit einem Kabel hervorzunesteln. Das Ende des Kabels steckte er in einen ebenfalls schwarzen Block, der wie eine Autobatterie aussah und unter dem Schutz des Buges am Boden befestigt war. Dann ließ er das Gerät an einem Seil im Wasser versinken.
    »Das Hydrofon«, erklärte er Martin. »Damit belauschen wir die Wale unter Wasser.« Emsig wühlte er wieder in seiner Wamsbrust herum, brachte drei Paar Kopfhörer hervor, setzte selbst welche auf und verteilte die anderen aufmunternd an Martin und Katha. Und die Verbindungskabel der Kopfhörer stöpselte er in den schwarzen Block.
    Die Wellen rund um das Boot hatten sich indessen verwandelt. Schatten wie von eilenden Wolken zogen unter dem Wasserspiegel an ihnen vorüber oder sanft unter ihnen dahin. Da klatschte eine Flosse heraus, dort hob sich ein immenser Körperteil mit einem brausenden Blasloch an die Oberfläche und sank wieder weg, von perlenden Streifen verfolgt. Und dann konnten sie die Wale auch hören.
    Kathas Finger gingen kindlich zählend den einstigen Deutschunterricht an der Pestalozzi-Schule in Buenos Aires durch. Vögel zwitschern, Pferde wiehern, Hunde bellen, Katzen miauen, Schafe blöken … schon gut, aber was tun Wale? Wirr durcheinander fiepen, kreischen, quietschen, heulen, gurgeln, grunzen, stöhnen, kichern, knurren sie da unten, einmal dominierend das eine, bald wie aus der Ferne das andere, und es kam ihr so vor, als durchzöge zugleich ein schwerer, wellenartiger oder mahlender Rhythmus dieses Stimmengewirr. Katha war, als könnte sie für Augenblicke – wie Alice durch den Spiegel über dem Kamin – in ein Wunderland eintauchen, von dem sie nur durch die Schaum- und Traumgrenze zwischen Luft und Wasser getrennt gewesen war. Da erstreckte sich vor ihr eine weite Hügellandschaft, belebt von undeutlich wahrnehmbaren, grasenden, schreitenden oder hüpfenden Lebewesen unbestimmter Art. Zwischen ihnen zogen, mühelos den Wiesengrund wie einen dichten Wassererbsenteppich anhebend und aufbrechend, langsam die dunklen Leiber der Wale hindurch.

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