Scherbengericht: Roman (German Edition)
bald aus den Augen verloren. Alberto aber brauchte noch einige Zeit, um sein Praktikum an der Albertina abzuschließen. So konnte das Vorstadtmädel sich in der turbulenten Dollfuß-Zeit noch mit aufregenden Wiener Erlebnissen vollsaugen, ehe dann das frisch getraute Paar in Triest auf der Conte Grande nach Buenos Aires eingeschifft wurde. Wer hätte sich damals das spätere Wiederfinden, den heimlichen Briefwechsel, die Zukunftspläne mit Schorsch vorstellen können? Am liebsten trage er seinen Bad-Ausseer Anzug, hatte ihr der fast sechzigjährige Unfallchirurg, viele Jahre nach Kriegsende, in seinem ersten Brief aus Sankt Pölten geschrieben: dunkelgrau, mit grünen Aufschlägen und Stehkragen, fast wie eine Uniform. Und dagegen mein Kunstgrafiker in Buenos Aires: im Grunde ein armer Kerl, wie sich herausgestellt hatte, wenn auch aus einem angesehenen, weitverzweigten Familienclan – mit einer Stammloge im Teatro Colón, dem dazumal größten Opernhaus der Welt, wo sogar ein Caruso, eine Flagstad gesungen und ein Furtwängler dirigiert hatte.
Vorher, im streikenden und darbenden und immer ungemütlicheren Wien, hatte Albertito nach dem Bankrott der Creditanstalt mit seinen starken argentinischen Pesos nach viel mehr ausgesehen, als er in Wirklichkeit war. Immerhin, seine Familie und ihr Freundeskreis prosteten einander in Buenos Aires zu Silvester nur mit Champagnergläsern zu. Aber gesungen wurde nicht. Keine Spur von schunkelnder Fröhlichkeit hier, nicht zu reden von Gumpoldskirchner oder Grünem Veltliner; kein vielstimmiges Frohsein »mit einem Liter G’rebelten«. Das war doch manchmal lustig und beschwingt gewesen, wenn Bruder Anton und seine Spezln ihre Gaudi trieben. In der südlichen Welthälfte indessen fällt ihr Geburtstag in den Frühsommer, und in Buenos Aires wurde zu Neujahr mit kultivierten, doch stocknüchternen Großbürgern gefeiert. Die Gespräche drehten sich nicht um brummende Schädel oder Raufereien, es ging nicht um Tschechen und Tschuschen, Rote und Juden, und es wurden zu vorgerückter Stunde auch keine schlüpfrigen Anekdoten zum Besten gegeben.
In Buenos Aires war Clementine die respektierte, stattlich schöne Gattin geworden, die »unser Albertito«, wie ihn seine Mutter und seine Tanten nannten, aus der mitteleuropäischen Kulturmetropole mitgebracht hatte – fast wie eine Trophäe. Unbekannt oder vergessen das Wirtshaus in der Vorstadt und ihre Lehrzeit in der Damenschneiderei. Mühelos ist sie in Buenos Aires zu einer Botschafterin der Operetten-, ja der Opernwelt aufgestiegen. Sogar in Emigrantenzirkeln ging sie als »Ur-Wienerin« durch. Wie gut, dass sie einmal durchs Kunsthistorische Museum und die Secession spaziert war, dass sie mit Schorsch die Volksoper besucht und als Kind das Klavierspiel erlernt hatte, natürlich auch viele Schubert-Lieder auswendig konnte und einmal an der ganztägigen Wien-Führung für staunende Vorortmädchen der letzten Volksschulklasse teilgenommen hatte. Hofburg, Kapuzinergruft, Schwarzenbergpalais, Belvedere, Schönbrunn, Lipizzaner – das alles hatte sie drauf. Und die paar Französisch-Formeln, die zu einer Damenschneiderlehre gehören, die hat sie immer geschickt, wie zufällig aus alter Kinderstubengewohnheit, in die Konversation eingeflochten: schöne sse pah ; tuts angsambl ; keske tü wöh ; moa ossih … Und, als philosophisch krönender Kommentar irgendeiner Begebenheit: Sella wie … – begleitet vom melancholisch-wissenden Lächeln eines Kindes der untergegangenen k. u. k. Monarchie. Vergessen das zugige Aumühl bei Wien, die verräucherte Wirtsstube, die verkotzte Dorfgasse. Ohnehin hatte sich in den letzten zwei Jahrzehnten ihr Jubiläum immer in Patagonien, unter Laglers Lindenbaum, abgespielt, sie war zum Mittelpunkt der Neujahrsfeste mit den Sommergästen geworden. Nur, wie kalt es heute Morgen ist! Ungewöhnlich, ungemütlich.
Mehrmals musste sie ihre lose gewordene Zahnprothese mit dem Daumen nach oben drücken. Soll sie nicht diesen Herrn Krohn bitten, ihr zu helfen? Welch ein günstiger Zufall, Gretls Neffe, angeblich ein hervorragender Zahntechniker in Jerusalem – na ja, eigentlich noch in Wien gezeugt, aber in Palästina auf die Welt gekommen. Diese Juden. Wie viele doch damals ausgewandert sind. Sein Vater soll in einem Lager gestorben sein – na ja, im »Tarnowitz« von Borges mit Sicherheit nicht. Es fröstelte sie. Warum hat man ihr Zimmer nicht mehr geheizt? Es war an der Zeit, zu frühstücken.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher