Scherbengericht: Roman (German Edition)
verließ ihre Suite ohne den Stock. Solange niemand sie beobachten konnte, schlurfte sie gebückt durch den Flur, mit der rechten Hand längs der Wand Halt suchend. Vor der Tür zur Wohnküche richtete sie sich auf, holte tief Atem und betrat mit hinten fest verflochtenen Händen und erhobenem Haupt den Raum. Sie musste zeigen, dass sie ihren Ärger von gestern, ihren Abgang mit der bösen Bemerkung über Rotrauds Benehmen und das Spiel überhaupt, in aristokratischem Großmut vergessen hatte. Es empfing sie angenehme Wärme. Die Glut in dem großen eisernen Herd war ja die ganze Nacht über nicht ausgegangen. Allerdings störte es sie, dass schon Bratengeruch den Kaffeeduft überlagerte – als hätte sie sich verspätet und das Mittagessen stünde kurz bevor.
Rotraud sprach mit Mirta und Delia am Arbeitstisch neben der Abwasch. Sie gab den beiden Hausgehilfinnen mit unbegründetem, aber gewohntem Lachen ihre Anweisungen, die frische Milch je nach ihrer Bestimmung in verschiedene Behälter umzugießen: hier die Trinkmilch zum Entrahmen, da die Milch für die Mehlspeisenteige, dort die für Topfen und Käse vorgesehene Menge.
»Hallo, Clementine!«, rief Rotraud mit Verzeihung erbittender Heiterkeit der Eintretenden entgegen. »Hast du gut geschlafen?«
»Das schon, aber es ist unangenehm kalt geworden.«
»Guten Morgen, Frau Clementine!«, grüßte auch Treugott Lagler. Er saß mit verbissenem Gesicht am Küchentisch und hielt seinen Kurzwellenempfänger in den schweren Händen. Im linken Ohr steckte der Hörknopf. »Es könnte heute sogar etwas schneien, aber für morgen ist strahlender Sonnenschein angekündigt. Keine Sorge, Frau Clementine.«
Auf dem großen Tisch waren fünf Frühstücksgedecke vorbereitet. Die langjährigen Sommergäste Holberg und Königsberg frühstückten, wie zur Familie gehörend, in der Wohnküche, und Benny Krohn, der einstige Kibbuzim, und seine Frau Sarah hatten sich diesem Brauch sofort angeschlossen.
»Du hast deinen Kopf schon wieder in Havanna!«, drohte Clementine ihrem Treugott mit gekrümmt gerecktem Zeigefinger und übertrieben strenger Stimme. Sie konnte keinen einzigen Finger mehr gerade ausstrecken. »Was dir die Kommunisten heute wieder vorlügen!«
»Der einundvierzigste Jahrestag der siegreichen Revolution steht an, liebe Genossin«, verkündete Treugott, hob den Kopf, schob das Kinn vor und veränderte seinen Gesichtsausdruck durch starres Nachvorneschauen: So blickt ein Menschenführer in die reale Utopie. In hohem und etwas gepresstem Ton verkündete er feierlich: »Ein Baum kann stürzen, weil er schwache Wurzeln hat. Aber kein Baum mit wirklich tiefen Wurzeln kann jemals ausgerissen werden. Ebenso wenig ein Volk wie das unsere, mit seinen tiefen, heroischen, revolutionären Wurzeln!« In sachlich-kühlem Ton fügte Treugott hinzu: »Ovationen.«
»Geh, geh, geh!«, winkte Clementine ab. »Das haben wir schon zu oft gehört.«
Aber der Redner war noch in vollem Schwung: »Das muss unsere Jugend verstehen. Bewusst soll sie aus unserer Geschichte trinken, bewusst ihren Geist aus dem glorreichen Vaterland nähren, aus seinen Traditionen, aus seinen Werten, aus seinem jahrzehntelangen revolutionären Kampf, so wie Kinder sich freudig von der Mutterbrust ernähren.«
»Jetzt sei aber still!«, prustete Rotraud los. »Du weißt doch, dass Clementine das nicht so spaßig findet. Geh lieber hinaus und bring mir die Innereien, und wasch den Magen gut aus.« Und schnell zu Mirta: »Etwas mehr Milch für den Teig!« Und zu Clementine, kichernd: »Mohnstrudel und Nussstrudel gibt’s morgen für mein Geburtstagskind.« Sie trug ihr verblichenes, vormals rotes Dirndl. Auf der vom Mieder gehobenen Brust standen zwei dunkelrote feuchte Flecken, jeder umringt von einem hellen Hof. Sich selbst unterbrechend, wiederholte sie eine Geschichte, die Clementine schon oft hatte hören müssen: »Vor fünfundzwanzig Jahren hat der Trigo den Bauern der Umgebung geraten, ihr Land mit ihren chilenischen Tagelöhnern zu teilen, wie unter Allende in Chile. Stell dir das vor – damals, unter der Militärdiktatur. Die hätten ihn verschwinden lassen können. Ich sprach kaum ein Wort Spanisch und hab nur überall herumgesagt: Trigo ist verrückt, Trigo loco, Trigo loco.« Worauf sie sich Treugott zuwandte. »Ja, Trigo, und alle haben mir das sofort abgenommen. Aber das Verrückte ist ja, dass du es gar nicht ernst meinst, dass du nur den Fidel spielst und den anderen einen Schrecken
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