Scherbengericht: Roman (German Edition)
ihm bei seiner Freude nicht gleich mit meiner Nachricht kommen. Und mir fällt eine seiner Notizen ein – eine grausame Parabel! –, die er seiner Eckerfrau einmal diktiert hat. Ich weiß nicht, ob sie zu dem passt, was ich sagen wollte. So ungefähr lautet sie: ›Nach ein paar Gesprächsminuten drängt es den alten Juden schon, mir die eintätowierte Nummer auf seinem Unterarm zu zeigen und mir eine Erinnerung aus den KZ -Jahren mitzuteilen. Er erzählt von der täglichen Rückkehr ins Lager, nach der Zwangsarbeit auf den Feldern, und wie die am Tor aufgereihten Wächter allein aus den Gesichtern der Zurückkommenden lesen konnten, ob einer unter seinen Kleidern etwas einzuschmuggeln versuchte: ein Stück Brot, zwei Kartoffeln, Geschenke barmherziger Bauern. Mit halb erhobenem Arm und gekrümmtem Zeigefinger macht er mir genau vor, wie so ein Wachsoldat einen da aus der Kolonne herauswinken konnte. Wenn der Ertappte Glück hatte, kam er mit ein paar Fußtritten davon, aber wenn nicht, dann … und er stößt mit ausgestrecktem, sich wie eine Schraube drehendem Zeigefinger schräg nach unten, um die tödliche Schussrichtung zu verdeutlichen. Ihn aber habe man nie erwischt. Beim Schmuggeln habe er eine Miene perfekter Gleichgültigkeit aufgesetzt und nur stur geradeaus geblickt. Und an dieser Stelle seiner Erinnerung wiederholte er für mich die inbrünstige Wurstigkeit seines damaligen Gesichtsausdrucks, ja, er starrte sekundenlang an mir vorbei in das Nichts. So ausdruckslos habe ich noch nie jemanden ins Leere blicken sehen. Nur eine ständige, extreme Bedrohung, die unmittelbare Nähe willkürlichen Tötens, können einen Ausdruck so dauerhaft in die Mimik eines Menschen einbrennen. Diese Miene hatte wegen ihrer grauenhaften Ursache ein historisches Eigenleben gewonnen, hatte eine abgehobene, über das Individuelle hinausweisende, stumm bleibende, heilige Bedeutung erlangt. War zu einem Zeugnis geworden. Und dennoch hat der alte Jud mir seine Erinnerung ganz aufgeräumt, ohne Pathos, wie eine Lausbubengeschichte vorgetragen – und mit ein paar trockenen, verlegenen Lachstößen geschlossen, als wollte er sich dafür auch noch entschuldigen.‹
Ilse, soll ich diese Miene und diesen Blick aufsetzen, wenn der Rohr kommt? Ilseliebes – würde ich Dir jetzt mit der Hand schreiben, Du könntest es nicht lesen, so zittert sie mir. Eli ist zu Clementine gegangen. Die alte Hexe wird natürlich nichts verraten, wenn sie überhaupt mitbekommen hat, was sie da für uns aufgedeckt hat. Wenn es auf irgendeinen Menschen zutrifft, dass sein Herz eine Mördergrube ist, dann für sie. Und mit neunzig muss es da drinnen wie in den Wiener Katakomben aussehen.
Als Komplikation kommt hinzu, dass Dein Benny und Sarah sich unter uns sofort wohl gefühlt haben. Die ständigen Fidel-Castro-Imitationen von Treugott belustigen sie wie eine skurrile Gästeunterhaltung. Die uralte Pseudo-Wienerin erscheint ihnen wie ein Geist aus der guten alten Zeit. Aber mit dem SS -Mann würde das Idyll wohl sein Ende haben. Mein Neffe ist ein so offener, lebensfroher Mensch. Er hat uns von seiner Arbeit erzählt. So ein Nanotechnologie-Projekt zwischen Jerusalem, Wien und Buenos Aires, mit einer soliden EU -Finanzierung dazu, das hat sicherlich Zukunft – ja das ist die Zukunft. Wenn ich mir aber Bennys Leutseligkeit in Gesellschaft mit dem Rohr vorstelle, läuft es mir kalt über den Rücken.
Zu allem Überfluss heißt der Unselige auch noch Siegmund, und es könnte dazu kommen, weil der Benny im Spaß die Frage an ihn stellt: ›Dann sind Sie auch Psychoanalytiker?‹ Rohr würde natürlich nicht antworten: ›Nein, KZ -Wärter im Ruhestand, ehemals Mauthausen!‹ Aber irgendwie kann es hochkommen, wir sind ja alle schon ein wenig senil, irgendwann könnten Clementines umherirrende Gedanken oder Impulse den fatalen Ortsnamen hervorstoßen und das Unglück nähme seinen Lauf. Wahrscheinlich würde es für Sarah, die eine robuste Sabra-Natur hat, bei einem that piece of shitbleiben, aber für Benny, den Sohn unseres Moritz? Ich kann nur hoffen, dass er, wie ein echter Israeli, mit seinem Kibbuznik-Hintergrund aus Gaaton, mit dem Wehrdienst und seiner Kriegsverletzung das Skandalon sofort im Griff hat. Da träfe Charakterstahl auf Mörderstahl – so möchte ich es dramatisch zugespitzt ausdrücken.
Wie traurig! Ich schaue auf das betriebsame, friedliche Tun da draußen unter dem Baum der Laglers, unter meiner Deutschkreutz-Linde. Wie ungerecht
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