Scherbengericht: Roman (German Edition)
schönen Tag, an Clementines Geburtstag; es soll doch ein heiterer Tag werden. Unbeschwert will ich in dieses neue Jahr gehen, das wir doch ganz gegen unsere Erwartungen erreicht haben. Gerade heute könnte ich mir diese Ereignisse, diese riesigen Enttäuschungen, nicht noch einmal vergegenwärtigen. Boykott dem Boykott! Heute soll’s einfach noch einmal gelten: ›In Färth, do hot’s viel Jud’n und viel Wärt.‹«
Gretl blickte bei diesen Worten, die ihm schon wie ein Vorgeschmack des letzten Abschnitts aus der Feder zu fließen schienen, und die sie eigentlich hätten beruhigen müssen, ratlos und niedergeschlagen auf seine nackten Füße. Sie steckten, wie immer, in ausgelatschten Mokassins. Irgendwann in den frühen vierziger Jahren, als in London die ersten Berichte über Massentötungen im besetzten Polen und der Ukraine verbreitet wurden, hatte Elias aus einer Eingebung heraus beschlossen, keine Strümpfe mehr anzuziehen: ob Winter oder Sommer, Regen oder Sonne, Hyde Park oder Library, Polohemd oder Anzug – seine Füße würden immer nackt bleiben, selbst in den gewichsten schwarzen Schuhen im Konzert. So entstand eine Aura von Verletzlichkeit um ihn, die man an der Universität respektierte und die es später seinen Klienten leichter machte, ihre eigenen Verletzungen aufzudecken. Es war Gretls Los, über ein halbes Jahrhundert hindurch ihren Ehemann täglich zu mahnen, doch »wenigstens heute« ein Paar Herrensocken anzuziehen. Sie führte, in der Hoffnung auf einen Erfolg ihrer Beschwörungen, auch immer zwei Paar in ihrem Koffer mit – die warmen und die leichten.
Natürlich hatte Dr. Elias Königsberg versucht, seinen spontanen Entschluss analytisch zu begreifen. Vielleicht war’s ein kindlich-kindisch-hilfloses Aufbegehren gegenüber dem Staatsmoloch, in dem er damals den Menschenfeind erblickte, oder auch ein parasitäres Mitleidenwollen am Elend der Opfer. Oder er wollte selbst symbolisch den Opfergang begleiten. Oder er wollte in seine heimatliche, barfüßige, glückliche Kindheit zurückkehren und in ihr ausharren, bis der Albtraum vorüber war. Bereits in einem frühen Erinnerungsessay, den sie gegen Ende des Londoner Aufenthalts abgetippt hatte, in Barefoot through Kristallnacht , hatte Eli die merkwürdige Schrulle behandelt. Aber die Antwort hatte er offengelassen: Auch ein Analytiker müsse es sich leisten dürfen, sich selbst nicht zu verstehen. Man rechnete ihm das hoch an, wenn auch nicht unbedingt unter Kollegen: Es war damals selten, dass ein Psychoanalytiker zugab, etwas nicht zu verstehen – obwohl das so auch wieder nicht ganz stimmte, denn er spekulierte ja, wie sie von ihm wusste, mit einem »geheimen Auftrag«, der ihm von »unserer immerdunklen Seite der Seele« erteilt worden sein könnte.
Gretl versuchte die Gunst des Augenblicks zu nutzen. »Willst du dir zu diesem Ereignis nicht ein Paar Socken anziehen, Eli? Ich hab dir doch immer prophezeit, an dem Tag, an dem du von deiner Jugendwelt Abschied nehmen kannst, wirst du auch wieder Socken tragen können.«
»Ach, Gretli, hör mir damit auf. Jetzt darf ich sie erst recht nicht anziehen.«
»Also dann barfuß auch durchs Hitlerreich …«
Die Falten des Psychiaters signalisierten Ratlosigkeit, doch seine blauen Augen, die wohlig auf den dicken Tränensäcken zu ruhen schienen, waren sehnsüchtig auf die Tür in den Garten hinaus gerichtet.
»Gretli, lassen wir das für heute. Ich muss Clementine begrüßen, es geht schon auf Mittag zu und ich hab sie noch gar nicht gesehen. Ich will dich nicht weiter stören, Liebes. Schreib nur ruhig weiter! Grüße mir Ilse und Saul herzlich.«
»Wenn du wüsstest …«, wollte Gretl beginnen, aber sie fing sich noch. Er solle nur zu der Jubilarin, aber er möge bitte vor dem Essen zurückkommen, sie habe noch etwas mit ihm zu besprechen.
»Ist was?«
Gretl verneinte, Elias zuckte mit den Schultern und ging auf die Tür zu. Als er sie öffnete und in den sonnendurchfluteten Neujahrsmorgen hinaustrat, breitete er theatralisch die Arme aus. Dazu stimmte er das Lied der Gefangenen aus Fidelio an: » Oh welche Lust, oh welche Lust … «
Gretl seufzte tief auf, überlas noch einmal die letzten Zeilen ihres Briefes und setzte ihn fort:
»Eben hat mich Eli unterbrochen. Er ist so froh, hat gesagt, endlich zum Abschluss seiner Jugend in Fürth gekommen zu sein. Jetzt liegt die schlimmste Etappe vor ihm. Er ist solch ein optimistischer und tieftrauriger Mensch zugleich. Ich konnte
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