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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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unsere doppelte Last: zuerst Vertreibung aus der Heimat oder Tod, dann Heimsuchung durch die Täter. Durch Gespenster aus Fleisch und Blut. Was sind wir denn noch, wir alle? Aus einem alten Waldbrand stammendes Treibholz, das der lange Zeitstrom mitgeführt und wahllos an einem entlegenen Uferwinkel abgesetzt hat?
    Liebste Ilseschwester, eben habe ich durchgelesen, was ich Dir da alles geschrieben, oder sollte ich sagen: zugemutet habe. Aber es drängt mich, Dir noch mehr zu sagen: Diese gefällige Technik verführt einen auch zur Geschwätzigkeit. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Du empört bist. Und zu Recht! Diese Gretl – da schreibt sie mir nur über ihre Angst vor dem Zusammentreffen zwischen Benny und dem SS -Mann aus Mauthausen. So, als fände sie es besser, dass sie nicht zusammenträfen, damit es bei einer ungestörten, heiteren Tafelgesellschaft zu Ehren dieser Clementine bleibt … Aber es ist doch vielmehr die Aufdeckung von Siegmund Rohrs möglicher Rolle bei der Ermordung unseres Moritz, die meine Schwester bestürzen sollte, wie sie mich bestürzt. Er könnte etwas von den Umständen des Sterbens meines Mannes wissen. Ja, er könnte sein Wächter, sein Peiniger, sein Mörder gewesen sein. Dem kann man doch nicht aus dem Weg gehen, etwa mit dem eingefrorenen Gleichgültigkeitsblick aus Elis Sprechstundennotiz. Ja, liebste Ilse, ganz recht, so ist es, sei nur bös auf mich, aber ich hatte Angst, es so zu sehen. Sicher, diesen Menschen muss man direkt fragen, was er von Moritz Krohn weiß, und ihm dabei in die Augen schauen. Aber bedenke auch: Ich habe diese Ungeheuerlichkeit erst vor knapp drei Stunden erfahren, und die Feigheit vor der Gefahr hat mich zuerst gelähmt. Und dann stellte sich bei mir so etwas wie eine Mattigkeit des Herzens ein. Es ist mir, als könnte ich nicht mehr mit der ›verständlichen‹ Empörung und dem gerechtfertigten Hass diesen möglichen ›Mittäter‹ zur Rede stellen oder gar anzeigen. Das wäre schon alles, was man legal tun kann, und es ist zu spät, viel zu spät dafür.
    Außerdem bin ich mir gar nicht so sicher, wie sich Eli verhalten wird. Ja, ich habe sogar den Verdacht, dass es ihn kindisch reizt – weil die Hausherrin Rotraud ihn nun einmal anbetet, ihm jeden Wunsch von den Augen abliest, und weil Treugott ihn zutiefst verehrt –, bei dem heutigen Fest machtvoll im Zentrum zu stehen, eine Prospero-Gestalt, die alle Knäuel zerschlägt und Blitze schleudert und magisch Ordnung schafft, triumphierend auch über das mesquine Schattendasein des einstigen Herrenmenschen – ein vital Überlebender, der dem Bösen, im Auftrag der toten Opfer, zeigt, was ein Sieger mit Großmut ist. Als wollte er Mauthausner Granit mit Herosdonner zu Staub zermahlen. Eli hat ja, wie gesagt, immer schon eine geradezu perverse Neigung gezeigt, sich mit Rohr und seinesgleichen abzugeben. Er hat mir einmal gestanden, es sei für ihn wie bei den Kindern im Krieg: Sie sammeln begeistert Bombensplitter aus den Trümmern, die der mörderische Luftangriff hinterlassen hat. Das habe er in London mehrmals beobachten können.
    Liebste Schwester, ich hätte gehofft, Dir unseren Neujahrstag nicht so bitter, so zerrissen zu schildern. Aber ich hab es vor allem wohl auch mir selbst schreiben müssen, und Dich dran teilhaben lassen. Ich muss meine ganze Resilienz aufbringen. Wäre es nicht sträflich unseren Vorfahren gegenüber, die uns ihr Bestes gaben, die uns dieses anfänglich glückliche Leben in Deutschkreutz schenkten, diese Festspielbesuche auf dem Schloss der Esterházy, diese lustigen Weinlesen im farbenfrohen Herbst, diese ersten Begegnungen mit Haydn, Schubert und Liszt. Wäre es nicht ungerecht, meine ich, die in uns fortlebende Herrlichkeit – und alles, was wir uns später selbst aufgebaut haben – von solchem Spuk beschmutzen und verderben zu lassen? So, wie sie jahrzehntelang vielen die deutsche Sprache, die deutsche Musik vergällt haben, gleichsam im postumen Vollzug ihres kurzen Vernichtungsregimes?
    So, das schicke ich Dir einfach. Du hast ja Saul bei Dir, er kann Dich umarmen, wenn es Dir unerträglich wird. Der Ablauf des Tages ist offen. Ich hoffe, am Nachmittag oder am Abend noch die Kraft zu haben, Dir zu berichten. Andernfalls wird Euch Benny wohl anrufen.
    Wird man den beiden, Benny und Siegmund, überhaupt zuschauen können, wenn sie zusammenkommen und sich vor Tisch die Hand geben? Da müsste doch der Augenblick kommen, in dem unser Gott den Himmel verdunkelt

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