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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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es bei Lilly genau dieses Suchen gewesen, das Pauls Herz im Sturm erobert hatte. Und das meines Vaters ebenfalls?
    Papa hatte geschworen, dass er Lilly nicht den Hof gemacht habe. Nein, es sei umgekehrt gewesen. Sie habe sich in ihn verliebt und daraufhin Paul verlassen. Und ich hatte ihm geglaubt. Aber warum hatte er mir dann Giannas Adresse gegeben? Die Visitenkarte einer Journalistin, die mittwochabends Senioren auf einer geriatrischen Kunstführung begleitete? Wieso hielt er ausgerechnet sie für vertrauenswürdig? Weil seine Hormone mit ihm durchgegangen waren?
    Zum ersten Mal kamen mir Zweifel bezüglich Papas Version zu Paul und Lilly. Ich seufzte gequält und ließ meinen Blick weiterschweifen. Mission Gianna Vespucci gescheitert. Nachdem Herr Schütz versucht hatte, Punkte bei meiner Mutter zu sammeln, sollte ich mich mit einer Gespielin von Papa verbünden? Ausgeschlossen. Ich wollte umkehren und verschwinden. Doch das Bild, das vor mir an der Wand hing, entwickelte binnen weniger Sekunden einen so starken Sog, dass ich plötzlich gar nichts mehr denken und erst recht nichts entscheiden konnte.
    Das Bild war nicht groß und ich empfand den Rahmen mit seinem dunklen Blau und dem Goldrand als spießig. Aber das Gemälde selbst traf mitten in meine Seele. Instinktiv legte ich die Hand auf meine Brust, weil ich wie so oft in letzter Zeit das Gefühl hatte, nicht richtig atmen zu können. Schon begannen meine Fingerspitzen zu kribbeln und die Härchen auf meinem Rücken stellten sich auf. Meine Haut war kalt, doch unter ihr glühte mein Blut, als hätte ich Fieber.
    »Die gescheiterte Hoffnung«, entzifferte ich mühsam. Die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, aber das Bild schwebte klar vor mir - zu nah, viel zu nah. Es sog mich in sich hinein. Ich spürte die scharfen Kanten der aufgebrochenen Eisschollen, die mich in das schwarze Nichts der Arktis hinunterzogen wie das Schiff in ihrer Mitte, von dem nur noch die Reling zu sehen war. Schon bald würde das Eis es unter sich begraben, samt seinen Leichen und all ihren verlorenen Träumen ... Ich war dabei ... Ich war eine von ihnen. Ich sah nicht mehr das Bild. Ich sah direkt in mein Herz. Ich taumelte nach vorne und drückte meine Hände gegen die Leinwand. Meine Fingernägel glitten mit einem leisen Scharren über die getrocknete Ölfarbe. Dann schlug meine Stirn dumpf an die Wand.
    »Hey, Achtung, das ist wertvoll.« Jemand griff nach meinem Ellenbogen und half mir, mein Gleichgewicht wiederzufinden. »Anfassen verboten. Keine Bange, hat niemand gemerkt.«
    »Ich ...« Ich schluckte, um den süßlichen Geschmack von meiner Zunge zu vertreiben. »Schlechte Luft. Das Bild ... es ist so kalt.«
    »Ja, die Luft hier ist beschissen, das kannst du laut sagen. Und es zieht wie Hechtsuppe. Alles klar? Ich hoffe, du kotzt mich jetzt nicht voll oder so.«
    Langsam konnte ich wieder klar sehen, und bevor ich erkannte, dass es Gianna war, die mich stützte und nun losließ, spürte ich ihre Angst. Sie hatte Angst.
    »Nein, werde ich nicht. Alles okay. Wirklich«, versicherte ich mechanisch.
    »Dein Wort in Gottes Ohr.« Gianna sah mich nicht direkt an. Ihre Bernsteinaugen wanderten über meine Kleidung, meine Haare, meine Schuhe. Doch meinen eigenen Blick mieden sie.
    »Ich geh dann mal wieder rüber.« Sie deutete zu ihrem Seniorenklub. Ein kurzes Lächeln entblößte ihre Schneidezähne, die ein Stück auseinanderstanden. »Ich hatte ja eher damit gerechnet, dass einer von denen kollabiert.«
    »Sie riechen nach Tod«, flüsterte ich.
    »Wer - ich? Meinst du mich?« Gianna wurde blass, ein grünliches Schimmern unter ihrer olivfarbenen Haut.
    »Nein.« Ich schüttelte den Kopf und fuhr mir mit der flachen Hand über den Nacken, um mich zu beruhigen. »Die alten Menschen. Es hat sich mit dem Bild verbunden und dann ...« Oh mein Gott, was redete ich hier? Nutz deine Chance, Elisabeth, zwang ich mich zur Vernunft. Sie steht direkt neben dir. Verwickle sie in ein Gespräch.
    »Kennen Sie das Gemälde Der Nachtmahr von Füssli?« sprudelte es aus mir heraus.
    Gianna beäugte mich skeptisch. Noch immer wich sie meinem direkten Blick aus. Ich war ihr nicht geheuer. Wie Paul.
    »Klar.« Sie zuckte mit den Schultern. »Und?«
    »Es ist auch seltsam. Finde ich.« Wenn ich nicht bald die Kurve kriegte, würde sie abhauen. Suchend drehte Gianna sich zu den Senioren um, die inzwischen beim einsamen Mönch am Meer angelangt waren. Dann wandte sie sich wieder mir zu.
    »Wie

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