Scherbenmond
Mädchen, ich bin doch keine Hure!«
Gianna war laut geworden und ein paar der Greise drehten sich beim Wort »Hure« interessiert zu uns herum. Gianna lächelte ihnen verbindlich zu.
»Nein, so ist es nicht!«, widersprach ich. Allmählich zerrte dieses Gespräch an meinen Nerven. Unterhaltungen mit Tillmann waren eine Wellnessbehandlung im Vergleich hierzu. »Das ist für deine, äh, journalistischen Dienste. Ein Vorschuss. Den du selbstverständlich behalten darfst. Außerdem kannst du gerne deinen Freund oder Mann mitbringen.«
»Habe keins von beiden.«
»Prima«, seufzte ich und musste wieder grinsen, was Gianna gar nicht passte.
»Ja, prima, finde ich auch«, giftete sie. »Ist toll, jeden Abend allein vor dem Computer zu sitzen und irgendwelches Trashfood in sich reinzustopfen, weil nicht mal Zeit zum Kochen bleibt.« Dann straffte sie ihren Rücken und war sofort fünf Zentimeter größer. Ich richtete mich ebenfalls auf, konnte mich aber nicht mit ihr messen. Sie überragte mich. Zum ersten Mal seit unserem Zufallskontakt sah sie mir direkt in die Augen. Ja, sie hatte Angst. Aber flackerte da nicht auch eine Spur Neugierde in ihrem Blick?
»Gianna ... mir ist klar, dass das alles irre wirkt. Ich bin kein Stalker oder so.«
»Glaubst du, da draußen läuft irgendein Stalker herum, der zugeben würde, einer zu sein?«
Ich wusste, was sie meinte. Es war das Gleiche wie in der Geschlossenen. Jeder Insasse behauptete, nicht dorthin zu gehören.
»Nein, wahrscheinlich nicht. Gianna, bitte, ich bin extra hierhergekommen, um dich zu treffen, mein Vater wollte es so, und ...« Beim Gedanken an meinen Vater wurde meine Kehle eng. Er war so furchtbar weit weg. »Bitte. Bitte komm zu uns. Nur einen Abend, eine Stunde, ich mach was Schönes zu essen und ...« Meine Augen füllten sich mit Tränen. Gereizt wischte ich sie weg.
Gianna schwieg eine Weile. Ich nutzte die stillen Sekunden, um meine Sehnsucht nach Papa zu bezwingen. Ich hatte mittlerweile Übung darin.
»In Ordnung«, sagte Gianna überraschend sanft, als ich mich gefangen hatte. »Eine Stunde. Wann?«
»Am Samstag? So um sechs Uhr?« Ich wollte keinen zu späten Termin ansetzen. Das würde ihr Misstrauen nur stärken. Andererseits sollte Paul einigermaßen lebendig sein. Außerdem wusste ich, dass am Samstag keine Vernissage stattfand. Paul und Tillmann würden Zeit haben. Gianna zog ihren Terminkalender aus der Tasche und blätterte darin.
»Ich hab um einundzwanzig Uhr noch eine Nachtführung im Dialog im Dunkeln.«
»Das ist bei uns in der Straße! Ein Wink des Schicksals, oder?« Ich versuchte, mein Strahlen zu mäßigen, denn Gianna war ganz augenscheinlich nicht nach Heiterkeitsausbrüchen zumute. Sie sah beinahe aus, als bereue sie ihren Mut.
»Alter Wandrahm 10«, sagte ich rasch. »Paul Fürchtegott. Danke! Er hat eine tolle Wohnung, direkt am Wasser, mit großen Räumen und ...« Ratten. Silberfischen. François. Mahren. Ich wollte Gianna das Geld in die Hand drücken. Aber sie nahm es nicht.
»Dann bis Samstag«, sagte sie kühl, drehte sich um und suchte das Weite.
»Geschafft«, flüsterte ich zufrieden. Mit geschlossenen Augen lehnte ich mich neben Die gescheiterte Hoffnung an die Wand und atmete tief durch. Gianna vertraute mir kein bisschen, doch irgendwie war es mir gelungen, ihre Neugier zu wecken. Und vielleicht war das schon die halbe Miete. Wenn der Abend gelang und sie uns sympathisch fand und nebenbei Paul aus seiner sexuellen Verirrung erretten konnte, hatte ich womöglich die Gelegenheit, sie näher kennenzulernen. Sie in unser Geheimnis einzuweihen war noch weit, weit weg.
Aber in diesem Moment hätte es mir schon vollkommen genügt, wenn Paul sie mochte. Denn das konnte ihm die Kraft schenken, die er brauchte, um durchzuhalten.
Ein Quantum Trost
»Oh Mann, bin ich bescheuert ...« Vor lauter Ärger schlug ich mir gegen die Stirn. Ich hatte Tillmann gerade von meiner Begegnung mit Gianna berichtet (und obwohl ich mich eifrig der Auslassungstechnik bediente, wurde offensichtlich, dass ich mich dabei nicht mit Ruhm bekleckert hatte) und in dem Moment, als ich ihm von meinen Kuppelabsichten erzählte, fiel mir ein, dass ich es wesentlich einfacher hätte haben können. Anstatt von Pauls blauen Augen zu schwärmen, hätte ich nur seine vermeintlichen künstlerischen Ambitionen erwähnen müssen. Immerhin war das etwas, was die beiden miteinander verbinden konnte.
Tillmann versuchte nicht, sein Grinsen zu
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