Scherbenmond
Papierkorb warf. Mit einem unruhigen Flattern im Bauch betrat ich den Eingangsbereich der Kunsthalle.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die bebrillte Dame hinter der Kasse, als ich brav meine Eintrittskarte bezahlt hatte und mich suchend umblickte. Außer der Dame und mir war kein Mensch zu sehen. Von irgendwoher hörte ich gedämpfte Schritte. Ansonsten herrschte jene fast kirchliche Museumsstille, die mich unweigerlich dazu bewegte, flacher zu atmen und meine Stimme zu senken.
»Ich ... ich möchte zur Seniorenführung.«
»Zur Seniorenführung?« Die Frau blinzelte verwundert.
»Ja, ich, ähm ... ich, also meine Oma ...«
»Ach so, verstehe. Im neunzehnten Jahrhundert.«
Nun war ich diejenige, die verwundert mit den Lidern klapperte.
»Bitte?«, stotterte ich.
»Im neunzehnten Jahrhundert, bei Caspar David Friedrich. Raum hundertzwanzig!«
Oh, gut. Caspar David Friedrich kannte ich. Ich bedankte mich und irrte durch die leeren Gänge, bis ich das neunzehnte Jahrhundert und den passenden Raum fand. Ich entdeckte die Senioren sofort. Nein, eigentlich roch ich sie zuerst. Ein schwaches Aroma nach Menthol, nassen Windeln und alter Haut. Einige von ihnen saßen im Rollstuhl, andere stützten sich auf ihre Rollwägelchen. Mit trüben Augen und schief gelegten Köpfen schauten sie die Kreidefelsen an, während ein dürrer Mann mit einem Zeigestab herumfuchtelte und über Friedrichs ach so tragischen Schlaganfall lamentierte. Ja, von dem hatte mein Kunstlehrer auch immer erzählt, aber ich fand es nicht sehr passend, einer Horde von Greisen davon zu berichten.
Nach Gianna musste ich nicht lange suchen. Sie stach aus der grau-beigen Gesellschaft heraus wie ein Schmetterling aus einem Schwarm Nachtfalter - ein schlecht gelaunter Schmetterling allerdings. Ich schob mich hinter eine Säule, um sie ungestört betrachten zu können. Sie lehnte an der Wand zwischen zwei Bildern, in der einen Hand einen Block, in der anderen einen Kuli, und machte sich ab und zu Notizen, ohne dabei auch nur einen Blick auf das Papier zu werfen. Irgendwie war ich mir sicher, dass sie die Notizen nicht einmal neben die Tastatur legte, wenn sie später den Artikel verfassen würde. Sie schrieb mit, weil man es von ihr erwartete. Aber eigentlich musste sie das nicht. Sie konnte es sich merken. Sie hatte solche Termine schon tausendmal besucht. So kam es ihr selbst jedenfalls vor.
Ich wunderte mich über meine spitzfindigen Schlussfolgerungen, zweifelte jedoch nicht einen Moment lang an ihrer Richtigkeit. Nun merkte Gianna, dass sie beobachtet wurde, hob den Kopf und unsere Augen trafen sich. Rasch zog ich mich hinter die Säule zurück. Mein Herz schlug schneller.
Sie erinnerte mich an jemanden. Ich durchwühlte mein Gedächtnis nach Frauen ihres Typs, denen ich begegnet war, doch ich fand keine. Gianna hatte glattes dunkles Haar mit jenem seidigen Schimmer, den ich meinem früher nur mithilfe eines Glätteisens hatte verpassen können. Ihr Gesicht war oval und ihr Mund weich, aber trotzdem so entschlossen, dass ich mir jetzt schon wünschte, niemals Streit mit ihr zu bekommen. Wir würden uns dabei vermutlich gegenseitig skalpieren.
Ihre Augen hatten eine merkwürdige Farbe. Braun konnte man sie nicht nennen, nein, es war eher Bernstein. Wie ich hatte sie kaum ein Gramm Fett auf den Rippen und gab sich keine Mühe, ihren Mangel an Rundungen mit ihrer Kleidung zu überspielen. Ihre Hüften waren knabenhaft schmal und ihre Körperhaltung schlichtweg miserabel. Hätte sie sich aufgerichtet und ihr Kinn gereckt, wäre sie als stolze Kriegerin durchgegangen. So aber sah ich ihr die verspannten Schultermuskeln aus zehn Metern Entfernung an. Ihr Alter schätzte ich auf Mitte zwanzig. Ähnlich wie Paul.
»Das ist es ...«, raunte ich und schlenderte unauffällig ein paar Schritte näher. Jetzt wusste ich, an wen sie mich erinnerte. Lilly. Pauls große Liebe. Es waren nicht Giannas Farben und erst recht nicht ihre Statur, die mich an Lilly erinnerten. Lilly war wie ein Kätzchen gewesen, klein, weich und verspielt, mit großen Brüsten und Mädchenaugen. Nein, es lag an ihrem Ausdruck. Lilly hatte immer alles bekommen, was sie wollte, und trotzdem hatte sie bei dem, was sie tat, stets gewirkt, als sei sie auf der Suche. Als sei ihr das Leben, das sie führte, nicht genug.
Bei Gianna spürte ich dieses Suchen auch, obwohl sie ganz bestimmt nicht immer bekam, was sie wollte. Ich konnte es kaum festmachen, doch es war da. Und wahrscheinlich war
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