Scherbenmond
angenommen.
»Okay, ich gebe zu, es ist nicht gerade eine Delikatesse«, mümmelte ich. Der grauenvolle Soßengeschmack intensivierte sich beim Sprechen. Ich ekelte mich plötzlich so sehr, dass ich den Mund öffnete und die halb zerkaute Nudel auf meinen Teller fallen ließ.
»Keine Delikatesse?« Gianna prustete. »Madonna, die chinesische Seilfolter ist ein Spaziergang dagegen!«
Paul konnte seine Erheiterung nicht mehr unterdrücken und lachte polternd los - und wie immer war es so ansteckend, dass wir allesamt einfielen.
»Was hast du da reingetan?«, japste Paul, als er wieder reden konnte. Ich stand auf und kippte die Reste des Essens in den Mülleimer.
»Pilze, Sahne, Salz, Pfeffer und einen Schuss Martini.«
»Martini?!«, riefen Gianna, Paul und Tillmann im Chor.
»Ja, ich wollte eigentlich Weißwein nehmen, aber es war keiner im Kühlschrank, also hab ich den Martini genommen. Was guckt ihr mich so an? Ist doch fast dasselbe.«
»Oh Gott, Ellie, du brauchst dringend Nachhilfe im Saufen«, stöhnte Tillmann kopfschüttelnd. »Martini ist pappsüß. Kein Wunder, dass das so grauenvoll schmeckt.«
»Seid ihr eigentlich ein Paar?«, fragte Gianna unvermittelt und deutete auf Tillmann und mich.
»Nein, nur Freunde«, erwiderte Tillmann, bevor ich antworten konnte.
»Genau, nur Freunde«, pflichtete ich ihm säuerlich bei. »Und sonst nichts.« Ich knallte den Deckel des Mülleimers zu und kickte ihn in seine Ecke zurück.
»Ach, zwischen euch läuft gar nichts?«, meldete sich Paul verwundert zu Wort. Neugierig schauten Gianna und er mich an.
»Nein«, entgegnete Tillmann seelenruhig. »Nichts.«
»Er steht auf Blondchen mit Riesentitten«, giftete ich.
Ich hatte keine Ahnung, ob Tillmann auf Riesentitten stand, aber ich hatte Lust, ihm eins reinzuwürgen. Wie immer kümmerte ihn das nicht im Geringsten. Gianna fand es ebenfalls nur zum Kichern. Paul rieb sich über seinen laut knurrenden Bauch.
»Okay, dann tritt jetzt das Notprogramm auf den Plan«, beschloss er und stand auf. »Pauls scharfe Spezialpasta. Und wehe, du kommst in meine Nähe, Schwesterchen.«
»Keine Sorge, ich dränge mich nicht auf.« Mit verschränkten Armen ließ ich mich neben Tillmann auf meinen Stuhl plumpsen.
»Du solltest wirklich deine Sache mit Colin klären«, raunte er mir zu. Ich tat so, als existiere er nicht, und beobachtete stattdessen Gianna und Paul, die sich in trauter Zweisamkeit am Herd zu schaffen machten und uns nicht mehr wahrnahmen. Mit einem geübten Griff schaltete Paul die kleine Küchenstereoanlage an und wieder ertönte jener Schlager, den ich an meinem allerersten Morgen in dieser Wohnung gehört hatte. Schon wollte ich zum Regal sprinten und einen anderen Song wählen, bevor er alles zerstörte, was ich mühsam arrangiert hatte - doch Gianna stieß zu meiner größten Verblüffung einen entzückten Jauchzer aus.
»Oh Paul, mach lauter ... bitte! Das war das Lieblingslied von meiner Oma! Sie hat es jeden Tag gehört, ich hab schon als Kind darauf getanzt!«
Paul gehorchte ihr aufs Wort und prompt war die Küche erfüllt von Mandolinengeschrubbel und dieser sehnsüchtig-weichen und doch so widerwärtig optimistischen Mädchenstimme. Gianna wiegte sich in der Hüfte und begann mitzusingen. Mit offenem Mund glotzte ich sie an. Sie sang verteufelt gut und sie wurde dabei ein völlig anderer Mensch.
»Was ist das eigentlich?« quäkte ich in möglichst ätzendem
Tonfall. Ja, mir sollte es recht sein, dass Paul und Gianna singend und Knoblauch hackend auf Wolke sieben schwebten, aber über meiner Stirn hatten sich zwei spitze Hörner gebildet, mit denen ich alle und alles zerstören wollte.
»Vicky Leandros«, unterbrach Gianna ihren Gesang, um sofort wieder einzustimmen. »Nein, sorg dich nicht um mich - du weißt, ich liebe das Leben ...«
»Und ich geh gleich kotzen«, knurrte Tillmann. Ich hätte ihn dafür küssen können. »Vicky Leandros. Mann, ist das krank.«
Nein, Paul war krank, aber die Musik schien wie Medizin für ihn zu sein. Und Gianna erinnerte sie an ihre Kindheit, die anscheinend sehr schön gewesen war.
Ihr hatte ja auch niemand Erinnerungen geraubt. Ich wusste, dass meine Kindheit ebenfalls ihre sonnigen Momente gehabt hatte, und einige dieser Momente hätte ich sogar detailliert schildern können. Aber das Grundgefühl dafür fehlte. Ich hätte genauso gut eine fremde Geschichte nacherzählen können, die nichts mit meinem eigenen Leben zu tun hatte. Gianna hingegen war
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