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Scherbenmond

Titel: Scherbenmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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nicht beraubt worden. Alles war noch da. Ich hasste sie fast vor lauter Neid und Eifersucht.
    Was für ein grandioser Abend. Ich saß neben Tillmann, der sich lieber seine Hoden abhacken lassen würde, als mich anzurühren, und missgönnte Paul sein zartes Glück mit Gianna.
    Das Schlucken fiel mir immer schwerer. Ich presste die Hände unwillkürlich gegen meinen Bauch, in dem sich eine Leere ausbreitete, die schmerzte und mich hungrig machte, doch gleichzeitig schienen Fäuste in meinen Magen zu stoßen, als wollten sie mich davon abhalten, weiterzuatmen und zu leben und jemals wieder Glück zu empfinden. Es war vollkommene Leere und Übersättigung in einem, wie eine kraftlose, matte Wut, die nicht zum Ausbruch kommen konnte - ich wollte aus mir heraus und weg, weit weg, wollte ohne einen Gruß oder gar einen Blick aufstehen, den anderen den Rücken zukehren und verschwinden. Nach Trischen? Ans Meer?
    »Vielleicht gefällt´s mir, wieder frei zu sein«, trällerte Gianna. »Vielleicht verlieb ich mich aufs Neu ... «
    Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich schob mich unauffällig in den Flur hinaus, die Hände weiterhin auf dieses brennende Loch in meinem Bauch gedrückt. Es bemerkte sowieso niemand, ob ich da war oder nicht. Mit dem Rücken an der kalten Wand blieb ich stehen, bis der Song endlich verklungen war und Paul die Musik leiser gedreht hatte.
    »Gehst du mal auf den Balkon und holst eine neue Flasche Wein?«, hörte ich ihn Gianna fragen.
    Ja, warum eigentlich nicht einfach abhauen? Tillmann machte, was er wollte, ob ich da war oder nicht. Für Paul war ich das kleine verrückte Schwesterchen, und wenn mich nicht alles täuschte, würde François bald der Vergangenheit angehören. Und der Mahr? Gegen den waren wir ohnehin völlig machtlos. Das hatte doch alles keinen Sinn. Ich war hier vollkommen überflüssig.
    Ein panisches Kreischen vom Balkon riss mich jäh aus meinem Selbstmitleid und im gleichen Moment drehte sich ein Schlüssel in der Tür. Tja, wenn man vom Teufel sprach - bei François traf dieser Spruch immer zu. Man musste nur an ihn denken und er tauchte auf. Doch warum schrie Gianna so hysterisch? Sie hörte gar nicht mehr auf.
    In dem Moment, als ich mich zu den anderen umdrehte, schoss ein kleiner dunkler Schatten in den Flur und hielt direkt auf mich zu. Dann folgte der vertraute weiße Schatten von links - Rossini -und galoppierte kläffend an der Ratte vorüber in die Küche. Ja, es war wieder eine Ratte und sie hatte nur eines im Sinn: mich. Schon hatten ihre kleinen roten Augen sich fest auf meine gerichtet. Ich blieb reglos stehen. Was wollten diese Viecher nur von mir?
    Sie verlangsamte ihr Tempo, krabbelte auf meinen Schuh und begann, ihre spitzen Krallen in mein Hosenbein zu graben und sich systematisch daran hochzuziehen. Schon hatte sie meinen Gürtel erreicht. Die Schnalle klirrte, als ihre Hinterbeinchen sich dagegenstemmten. Ein modriger Kanalisationsgeruch waberte in meine Nase. Die Ratte war meinem Gesicht nun so nah, dass ich ihren Atem hören konnte. Ein hektisches, flaches Hecheln.
    Giannas Kreischen war verhallt. Auch Rossini hatte aufgehört zu bellen. Alle waren hier, bei mir im Flur. Ich spürte, dass sie mich anstarrten, Paul, Gianna und Tillmann, doch ich war nur auf die Ratte fokussiert. Was hatte sie vor? Wollte sie mich tatsächlich ersticken? Dann sollte sie es mal versuchen.
    Komm schon, dachte ich wütend. Zeig mir, was du willst. Was willst du von mir?
    Sie fiepte angriffslustig, als sie sich an meinen Hals klammerte und ihren Hinterleib nach oben schob. Ich schluckte, um nicht zu würgen, denn ihr Verwesungsgestank wurde übermächtig. Das Gewicht ihres biegsamen Körpers lastete zentnerschwer auf meiner Luftröhre.
    Doch dann durchdrangen die Blicke von François den dumpfen und doch so konzentrierten Nebel, in dem ich mich befand. Ich schaute auf. Was war das nur für ein Ausdruck in seinen trüben Augen? Hass? Abscheu? Misstrauen? Mit einem Mal begriff ich, dass ich mich nicht verhalten durfte, wie ich es gerade tat - ich war ein Mädchen, ich musste Angst haben und schreien, wie Gianna vorhin. François blickte mich so merkwürdig lauernd an, weil ich kühl beobachtete, anstatt panisch zu werden. Es passte ihm nicht. Und aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich es ihm recht machen musste. Der kalte Schwanz der Ratte legte sich drohend um mein Ohr, als wollte sie damit meine Gedanken bestätigen. Ich atmete gepresst ein und begann zu brüllen,

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