Scherbenmond
die Sonne. Wie heißt er mit vollem Namen?«
»Colin. Colin Jeremiah Blackburn.« Giannas Augen wurden rund. »Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich jetzt gerne wieder Paul und seinem Befall zuwenden. Oder hast du noch etwas anderes vor heute Abend?«
Giannas Lachen erstarb.
»Oh Gott ...«, stammelte sie. »Ich hab meinen Termin vergessen! Den Termin im Dialog im Dunkeln! Die warten bestimmt die ganze Zeit auf mich und das sind doch Blinde! Ich kann doch keine blinden Menschen warten lassen! Das tut man nicht!«
Giannas Bestürzung wollte überhaupt kein Ende nehmen. Nun musste ich lachen, doch das Klingeln meines Handys verpasste unseren Gefühlsausbrüchen einen - wenn auch nur schwachen -Dämpfer. Ich war inzwischen ebenfalls beschwingt genug, um den lange erwarteten Anruf locker zu nehmen. Locker und mit fragwürdigem Humor. Ich warf meine Haare zurück, griff geziert nach dem Telefon und spreizte meinen kleinen Finger ab, als ich auf den grünen Hörer drückte.
»Badeanstalt für katholische Hunde?«, näselte ich. Gianna prustete laut.
»Ellie? Bist du das? Hallo?«
»Am Apparat«, sagte ich würdevoll. Gianna zog eine Nudel aus dem Topf und zerkleinerte sie, um die einzelnen Stücke mit versunkener Sorgfalt auf die Verzierungen von Pauls Versace-Geschirr zu kleben. Dabei trällerte sie italienisch vor sich hin, irgendwas mit »amore« und »attenti« und »lupo«.
»Sag mal, was treibt ihr da?«
»Mädelsabend.«
»Okay. Dann hör mir jetzt zu, ohne dazwischenzuquatschen. Paul geht es gut, er schlägt sich gerade den Bauch voll. Ich schlafe in einem anderen Trakt des Schiffes, weit weg von den beiden. Der Volvo steht am Pier, der Schlüssel steckt. Wir sind zwei Wochen unterwegs. Paul ist sauer auf mich, weil ich dich alleingelassen habe und er für meine Kabine blechen muss. Aber ich hab ihm gesagt, dass ich dringend mal rausmusste und du sowieso nach Hause fahren wolltest. Bist du noch da, Ellie?«
»Ich schweige, wie vom Herrn Grafen befohlen.« Ich musste kräftig hicksen - halb Schluckauf, halb Rülpser.
»Ach Gott, die armen Blinden«, jammerte Gianna, die ihr Kunstwerk vollendet hatte und mit schwammigem Blick mein Gesicht fixierte. Dann beugte sie sich vor und legte ihre Fingerkuppe auf meine Nasenspitze. »Hast du eine Nasenhupe?« Sie drückte zu. »Nein, keine Hupe. Ich wusste es. Aber ich, ich hab eine Nasenhupe!« Sie tippte auf ihre eigene Nase - es wunderte mich, dass sie sie traf - und trötete wie ein Lastwagen beim Überholen. Dann sackte ihr Kopf auf die Tischplatte und sie begann zu schnarchen.
»Jetzt sind wir allein, Schätzchen«, säuselte ich in den Hörer.
»Nenn mich nicht Schätzchen, verstanden?«
»Aye, aye, Käpt’n.« Ich erhob mich, um zu salutieren, doch der Raum drehte sich nach rechts und ich knallte mit der Schläfe gegen die offen stehende Küchenschranktür. Schlagartig war ich wieder nüchtern.
»Ellie. Bitte hör mir doch mal richtig zu. Hast du irgendeine Ahnung, was er sein könnte? François?«
Ich glaubte plötzlich, das Meer rauschen zu hören. Tillmann musste draußen an Deck stehen.
»Ich hab keine Ahnung. - Hast du denn gar keine Angst?«
»Nein. Es ist doch im Grunde das Gleiche wie vorher. Er war die ganze Zeit schon da. Nur wissen wir jetzt, wer der Mahr ist. Aber ich finde es besser, wenn ich meinen Feind kenne, als mich die ganze Zeit davor fürchten zu müssen, wer er sein könnte. Es wirft nur einen Haufen neuer Probleme auf. - Und was wirst du jetzt tun?«
Ja, was sollte ich tun? Paul war samt Mahr und meinem Assistenten auf hoher See unterwegs. Gianna hatte sich ins Koma gesoffen. Und ich hatte viel zu viel freie Zeit vor mir und unzählige Fragen, die mir fast den Verstand raubten. Nur einer konnte diese Fragen beantworten. Ich musste mich ihm stellen. Meinem Bruder zuliebe und auch mir zuliebe.
»Ich fahre nach Trischen. Zu Colin.«
Konfrontationstherapie
Meine Entscheidung war also gefallen. Ich würde nach Trischen fahren. Und zwar am besten gleich morgen, bevor ich ins Zaudern geriet und es mir am Ende anders überlegte. Ich konnte Paul nicht im Stich lassen. Das durfte ich nicht tun.
Minutenlang saß ich bewegungslos am Tisch und hörte Gianna beim Schnarchen zu. Ihre dunklen Haare fielen ihr in seidigen Strähnen ins Gesicht und ihr Mund stand leicht offen. Ihre Zungenspitze vibrierte bei jedem Atemzug. Ich konnte kaum glauben, dass sie schon achtundzwanzig war, obwohl sie das Misstrauen einer alten Jungfer
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