Scherbenmond
in meiner Nähe nicht mehr duldete - weder real noch auf Film gebannt -, stellte ich Leinwand und Tasche in Pauls Werkkammer unter. Zurück im Zimmer öffnete ich das Fenster und ließ die kühle Nachtluft hereinströmen.
Ob Colin überhaupt noch auf Trischen lebte? Oder hatte er längst die Geduld verloren und war abgehauen, um sich am anderen Ende der Welt eine neue Existenz aufzubauen?
Ich nahm Pauls alten Schulatlas aus dem Regal und schlug die Karte von Norddeutschland auf. Mein Mund klappte auf, als ich Trischen fand. Wir mussten tatsächlich stundenlang über das offene Meer gefahren sein ... Ich war davon ausgegangen, dass Trischen sich sehr nahe an Sylt befand. Doch die Sandbank lag ein gutes Stück südlicher. Es war also keine Einbildung gewesen, dass mir die Fahrt mit dem Boot so unendlich lang vorgekommen war. Colin hatte uns über das offene Meer geschippert.
Es war völliger Quatsch, morgen nach Sylt zu fahren. Trischen musste direkter zu erreichen sein, wahrscheinlich über das kleine Örtchen Friedrichskoog. Ich ging zurück ins Wohnzimmer - Gianna schnarchte immer noch friedlich in der Küche vor sich hin - und fuhr gähnend Pauls Laptop hoch.
Mein Herz machte einen Sprung, als Google mir offenbarte, dass Trischen sogar seine eigene Website hatte. »Trischen - Vogelinsel im Wattenmeer.« Unbehaglich öffnete ich den Link und stellte erleichtert fest, dass die Startseite eine Aufnahme der Insel von oben zeigte. Ich klickte auf die deutsche Fahne. Noch einmal die Insel von oben, wieder bei Sonnenschein und Ebbe. Wie konnte man angesichts einer solchen Idylle nur Angst haben?
Etwas mutiger studierte ich das Menü. »Die Vogelwartin.« Ich kicherte leise. Was Colin ihr wohl für eine Krankheit verpasst hatte? Hoffentlich ging es der armen Frau besser. Besser, aber nicht so gut, dass sie wieder arbeiten konnte. Ich brauchte ihn schließlich.
Ich ließ meine Augen nach unten wandern. Artenvielfalt, Insekten, Schwebfliegen, Krebse, wunderbar, aber das interessierte mich jetzt alles nicht. Historisches? »Eine neue Hütte.« Ich schob zögerlich den Mauszeiger darüber und drückte auf die linke Taste.
Oh Gott, ja, das war sie ... die Hütte ... Der Pfahlbau mit der langen Stiege und dem umlaufenden Balkon. Ich schloss die Augen, atmete zitternd durch und öffnete sie wieder. So schrecklich sah sie eigentlich gar nicht aus, wenn die Sonne schien und kein Sturmflutwetter herrschte. Außerdem wirkte die Insel auch auf diesem Foto viel größer, als ich sie in Erinnerung hatte. Platz genug, um am Strand Karate zu trainieren ... so wie ich es geträumt hatte? Oder hatte ich Colin wirklich gesehen?
Mein Herzschlag beruhigte sich ein wenig. Trotzdem fühlte ich mich wie früher, wenn Paul und ich uns Bilder von entstellenden Krankheiten im Pschyrembel angeschaut hatten. Die Neugierde und mein Ehrgeiz trieben mich dazu, genau hinzusehen und meinen Blick nicht abzuwenden, aber mein Magen wehrte sich vehement dagegen.
Okay, weiter. »Der neue Inselversorger.« Das war ja niedlich! Ein Boot namens Luise diente als Transportschiff für Lebensmittel. Allerdings ... »Scheiße«, knurrte ich. Der Kapitän, ein Axel Nielsen, steuerte die Insel immer nur sonnabends an. Also war er heute dort gewesen. Egal. Ich würde in Friedrichskoog schon jemanden auftreiben, der mich nach Trischen brachte. Vielleicht sogar Nielsen persönlich - ein freundlich wirkender Mann mit weißen Haaren, der in kurzen Hosen am Deck der Luise stand. Ich musste mir nur einen guten Grund einfallen lassen, weshalb er mich auf die Insel fahren sollte. Aber dazu hatte ich noch genug Zeit.
Nun war ich doch kühn genug, auf »Aktuelles im Schaufenster« zu klicken. War dort vielleicht von Colin die Rede? Doch ich fand nur die letzten Grußworte der armen kranken Vogelwartin von vergangenem Herbst. Offenbar liebte sie dieses Eiland.
»Mensch, Colin«, murmelte ich tadelnd. Gleichzeitig musste ich grinsen. Er hatte es für mich getan. Um mir nahe zu sein. Was schrieb das Mädchen denn?
»Vielmehr gab es so viele lustige, aufregende und wunderschöne Augenblicke, dass ich mich wundere, wie das alles in sieben Monate gepasst hat.«
Oh ja. Haha. Aufregende Augenblicke. Die hatte ich auf Trischen auch erlebt. Ich schloss die Seite und klappte den Laptop zu. Es war Zeit, ins Bett zu gehen und die mahrfreie Nacht für einen ausgiebigen Schönheitsschlaf zu nutzen.
Ich schaffte es, Gianna aus dem Koma zu mobilisieren und zu Tillmanns Pritsche zu
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