Scherbenmond
besaß und manchmal über Männer wetterte, als seien sie der Abschaum der Menschheit. Und doch hatten ihre Augen jedes Mal geleuchtet, wenn der Name meines Bruders gefallen war.
Konnte sie uns denn wirklich nützlich sein? Gianna war neugierig. Sehr sogar. Und das war nicht schlecht, denn neugierig musste man sein, wenn man sich mit Mahren befassen wollte. Sie musste so neugierig sein, dass sie dabei ihre Angst vergaß. Heute hatte das funktioniert.
Ihre journalistischen Kontakte konnten wir jedoch vergessen. In diesem Punkt würde sie uns nicht behilflich sein können, wenn sie nicht maßlos untertrieben hatte. Aber das glaubte ich nicht. Gianna wirkte auf mich nicht wie eine toughe Enthüllungsjournalistin mit massig Vitamin B. Was sie über ihre Kollegen angedeutet hatte, ließ vermuten, dass sie in der Redaktion nicht den besten Stand hatte.
Dennoch waren wir inzwischen zu viert. Dr. Sand, Tillmann, Gianna und ich. Vier Menschen, die glaubten, was sie gesehen oder gehört hatten. Und wenn wir meinen Vater dazuzählten, waren wir sogar zu fünft. Verschwindend wenig, um einen Kampf gegen die Mahre anzuzetteln. Aber ich fühlte mich nicht mehr so alleine in all dem, was ich tat oder eben nicht tat.
Ab morgen war ich endlich nicht mehr nur die blöde Miss Moneypenny. Kurz überlegte ich, wo die Baldriantabletten lagen, die Dr. Sand mir überlassen hatte. Ob der Placeboeffekt auch ein zweites Mal funktionieren würde? Noch war ich nicht nervös oder gar panisch, aber das würde sich ändern, sobald ich aufbrach.
Im Moment stimmten mich der Alkohol und die Müdigkeit beinahe euphorisch. Es war eine ruhige, fließende Euphorie, die bald in Kopfschmerzen übergehen würde. Ich brauchte dringend eine Mütze Schlaf. Papa hatte mir mal erzählt, dass Schlaf und Sport die besten Heilmittel gegen Angst seien. Der Körper müsse über genügend Energien verfügen, um die Paniksymptome verarbeiten zu können, und Sport schütte Botenstoffe aus, die unsere Psyche aufhellten und uns das Gefühl von Unbesiegbarkeit verliehen.
Ich hatte meinen Körper in den vergangenen Wochen und Monaten schändlich vernachlässigt. Kaum Bewegung, wenig Schlaf - den totenähnlichen Tiefschlaf während der Angriffe von François zählte ich nicht dazu -, fettes, ungesundes Essen, zu viel Kaffee. Keine guten Voraussetzungen für eine Fahrt nach Trischen.
Aber der Mahr - François, was ich immer noch nicht begreifen konnte, obwohl es so bestechend logisch war - konnte mich heute Nacht nicht heimsuchen. Er war weg. Tillmann würde auf Paul achtgeben; es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm darin zu vertrauen. Und das tat ich auch. Tillmann war loyal, vielleicht sogar der loyalste Mensch, der mir jemals begegnet war.
»Kleiner Scheißer«, murmelte ich schmunzelnd und zog Gianna eine Haarsträhne aus dem Mund, die sie immer wieder einatmete und gleich darauf aushüstelte.
Ja, was Tillmann an Feingefühl und Diskretion mangelte, machte er durch Loyalität und Skrupellosigkeit wett. Ich genoss den Gedanken, für ein paar Nächte von seinen verbalen Tiefschlägen befreit worden zu sein. Und gleichzeitig fehlte er mir.
Ob François etwas gespürt hatte? Mit Sicherheit war es kein Zufall gewesen, dass er ausgerechnet in dem Augenblick hier aufgetaucht war, als es zwischen Gianna und Paul zu knistern begann. Was hatte Gianna gesagt? Paul sei ihm hörig. Aber ahnte er, dass wir etwas von Pauls Befall wussten? Ich hatte nicht an den Mahr gedacht, während François im Flur stand. Tillmann sicherlich auch nicht. Wir waren zu sehr von der Ratte abgelenkt gewesen. Aber François’ Blick, als das Vieh sich an meine Kehle geklammert hatte und ich still zusah - ja, mein Verhalten hatte ihn irritiert. Hoffentlich hatte ich rechtzeitig zu schreien begonnen und er schob meine Kaltblütigkeit auf meinen vermeintlichen Irrsinn.
Ich erschauerte, als ich an seine trüben Augen dachte. Nie zuvor hatte er mich direkt angesehen. Aber soweit ich wusste, konnten Mahre weder apparieren noch sich zweiteilen. Also würde ich heute Nacht in Sicherheit sein und ich betete, dass Paul es auch war. In diesem Moment konnte ich nichts für ihn tun. Der Einzige, der uns jetzt noch helfen konnte, war Colin. Und selbst das stand in den Sternen.
Ich raffte mich auf, beseitigte die Überreste unseres Gelages und schlurfte in Pauls Spielzimmer, um die Leinwand zusammenzurollen und den Projektor samt Kamera in Tillmanns ausgeleierter Sporttasche zu verstauen. Da ich François
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